Abstracts:
Antonio Somaini: Walter Benjamin’s media theory and the tradition of the media diaphana
The article presents an in-depth analysis of Benjamin’s use of the German term Medium, in order to show how his entire media theory may be interpreted as centered on the interaction between the historically changing realm of the technical and material Apparate, and what he calls in the artwork essay the »Medium of perception«: the spatially extended environment, the atmosphere, the milieu, the Umwelt in which sensory experience occurs. This notion of »Medium of perception« is then located within the long, post-Aristotelian tradition of the media diaphana, whose traces can be found in the 1920s and 1930s in the writings of authors such as Béla Balázs, Fritz Heider, and László Moholy-Nagy.
Der Artikel präsentiert eine eingehende Analyse von Benjamins Gebrauch des deutschen Begriffs »Medium«, um zu zeigen, dass seine gesamte Medientheorie fokussiert ist auf die Interaktion zwischen dem historisch veränderlichen Bereich der technischen und materiellen Apparate einerseits und dem, was er in dem Kunstwerkaufsatz das »Medium der Wahrnehmung« nennt: die räumlich ausgedehnte Umgebung, die Atmosphäre, das Milieu, die Umwelt, in der sinnliche Wahrnehmung erfolgt. Dieser Begriff des »Mediums der Wahrnehmung« wird dann innerhalb
der langen, nacharistotelischen Tradition der media diaphana verortet, deren Spuren in den 1920er und 1930er Jahren in den Schriften von Autoren wie Béla Balázs, Fritz Heider und László Moholy-Nagy zu finden sind.
Barbara Baert: Die spätmittelalterlichen eingefassten Gärten oder horti conclusi in den Niederlanden
Die eingefassten Gärten oder horti conclusi der Augustiner-Schwestern von Mechelen in Belgien stammen aus dem frühen 16. Jahrhundert und bilden einen außergewöhnlichen Teil des spätmittelalterlichen Kulturerbes. Aufgrund von mangelndem Verständnis und Interesse sind die meisten eingefassten Gärten verloren gegangen. Nicht weniger als sieben dieser Gärten sind allerdings bis in das späte 20. Jahrhundert in ihrem ursprünglichen Kontext erhalten geblieben: Der kleinen Gemeinschaft der Augustiner-Schwestern in Mechelen. Gleich ›schlafenden Schönheiten‹ sind sie in den Zellen der Schwestern als Hilfestellung bei der Andacht verborgen geblieben. In meinem Beitrag stelle ich diese Gärten vor als eine Symbolisierung des Paradieses und der mystischen Unio, als ein Heiligtum der Verinnerlichung, als eine Sublimierung des sensorium (insbesondere des Geruchs), als Gartenbau, der im Prozess der Entstehung Sinn gewinnt und als ein Paradigma des Nests.
The early sixteenth-century Enclosed Gardens or horti conclusi of the Augustinian Hospital Sisters of Mechelen, Belgium, form an exceptional part of late medieval world heritage. Most Enclosed Gardens have been lost, through the ravages of time exacerbated by lack of understanding and interest. No fewer than seven Enclosed Gardens, however, were preserved until the late twentieth century in their original context: the small community of Augustinian nuns in Mechelen. Like ›sleeping beauties‹, they remained secluded in the sisters’ rooms as aids to devotion. In this paper I discuss these gardens as a symbolisation of Paradise and the mystical union, as a sanctuary for interiorisation, as a sublimation of the sensorium (particularly smell), as horticulture that gains meaning in the making process and as a paradigm for the nest.
Mark B. N. Hansen: Appearance In-Itself, Data-Propagation, and External Relationality: Towards a Realist Phenomenology of »Firstness«
Drawing on American philosopher Charles Sanders Peirce›s »phaneroscopy«, and particularly on its point of disjunction from more orthodox phenomenology concerning the status and necessity of reception, this article argues that today’s databases phenomenalize the aesthetic dimension of worldly sensibility. Although database phenomenalizing explicitly substitutes for the phenomenalizing performed by consciousness on standard accounts of phenomenology, the important point is that it does so without severing contact with human experience. What is ultimately at stake here is the status of the phenomenon itself: insofar as it hosts the self-manifestation of the world without necessarily manifesting it to anyone or anything, the phenomenon can be disjoined from its subjective anchoring in consciousness (or any of its avatars) and ascribed to the operationality of worldly sensibility itself.
Gestützt auf die sog. »phaneroscopy« des amerikanischen Philosophen Charles Sanders Peirce und insbesondere auf ihre Differenz zur orthodoxeren Phänomenologie in Bezug auf den Status und die Notwendigkeit der Rezeption argumentiert dieser Beitrag, dass die heutigen Datenbanken die ästhetische Dimension weltlicher Sinnlichkeit phänomenalisieren. Auch wenn die Phänomenalisierung durch Datenbanken diejenige durch Bewusstsein explizit ersetzt, bleibt es bedeutsam, dass dies geschieht, ohne den Kontakt mit menschlicher Erfahrung abzubrechen. Worum es letztlich geht, ist der Status des Phänomens selbst: Insoweit es die Selbst-Manifestation der Welt beherbergt, ohne sie notwendigerweise für irgendjemand oder irgendetwas zu manifestieren, kann das Phänomen von seiner subjektiven Verankerung im Bewusstsein (oder jedem seiner Avatare) gelöst werden und der Operationalität weltlicher Sensibilität selbst zugeschrieben werden.
Stefan Herbrechter und Karin Harrasser Debatte: Posthumanismus
Posthumanismus hat sich als neues Theorie-Paradigma etabliert. Wie alle gesellschaftlichen Diskurse, ist auch dieser eine Summe aus Machtkämpfen, Subjektpositionen, Identitäten und deshalb voller Konflikte. In diesem Diskurs, der vor allem zeitgenössische und somit technokulturelle Motive beinhaltet, aber natürlich auch eine lange Vorgeschichte hat, gibt es keine Einigung darüber, was das Posthumane eigentlich ist, d. h. ob es sich bei ihm um das Beste oder das Schlechteste handelt, das dem Menschen, seiner Humanität, der Menschheit und der humanistischen Tradition widerfahren könnte; noch besteht Übereinstimmung darüber, ob Posthumanismus unvermeidlich, bereits Realität oder nur ein Trugbild ist; oder ob er politisch, kulturell, sozial progressiv oder im Gegenteil vielleicht sogar regressiv ist; ob er allein durch technologischen Wandel oder hauptsächlich konstruiert und somit ideologisch motiviert ist. Die Debatte zwischen Stefan Herbrechter und Karin Harrasser geht den Gründen für die Karriere posthumanistischer Motive und den damit zusammenhängenden Befürchtungen und Hoffnungen nach.
Posthumanism has established itself as a new paradigm of theory. Like all social discourses, it is a sum of power struggles, subject positions, identities – and thus full of conflict. In this discourse, which includes mainly contemporary and hence techno cultural motifs, but which of course also has a long history, there is no agreement about what the posthuman actually is, that is if it is the best or the worst that could happen to man, to his humanity, to mankind and the humanistic tradition in general. Neither is there agreement as to whether posthumanism is inevitable, already a reality or just a mirage; or whether it is politically, culturally, socially progressive or to the contrary perhaps even regressive; whether it is solely produced by technological change or mainly constructed and thus ideologically motivated. The debate between Stefan Herbrechter and Karin Harrasser explores the reasons for the career of posthumanistic motives as well as related fears and hopes.
Georges Didi-Huberman: Glimpses. Between Appearance and Disappearance
Einige fragmentarische Bemerkungen zu Erscheinen und Verschwinden in poetischem und philosophischem Stil.
Some fragmentary reflections, in a poetic and philosophical way, about appearance and disappareance.
Claudia Blümle: Das verhüllte Rätsel. Verschwinden und Erscheinen in der surrealistischen Kunst
Das Verhältnis von Verschwinden und Erscheinen wurde in der bildenden Kunst nirgends so explizit behandelt wie im Surrealismus. Exemplarisch kann dabei Das Rätsel des Orakels von Giorgio de Chirico und The Enigma of Isidore Ducasse von Man Ray herangezogen werden. Eingerahmt von einem Manifest zur Rolle des Traums wurde Man Rays Enigma bereits auf der ersten Seite der ersten Ausgabe der Zeitschrift Le révolution surréaliste abgedruckt. Wie im Beitrag gezeigt werden soll, wird die Beziehung von Verschwinden und Erscheinen im Surrealismus nicht nur visualisiert, sondern diese wird in ihrer Struktur von Anwesenheit und Abwesenheit analytisch und zugleich sinnlich seziert.
No epoch of the visual arts has treated the relation of disappearance and appearance as explicitly as surrealism. Especially Giorgio de Chirico’s The Enigma of the Oracle and Man Ray’s The Enigma of Isidore Ducasse can be used as examples. Framed by a manifesto on the role of the dream, Man Ray’s Enigma was printed on the first page of the first issue of the journal La révolution surréaliste. In this paper I show how in surrealism, the relation of disappearance and appearance is not only visualized, but dissected in an analytical and at the same time sensual way.
Wolfgang Struck: Aus der Welt gefallen. Eine geographische Phantasie
Während im 19. Jahrhundert die ›weißen Flecken‹ von den Landkarten verschwinden, erscheint eine eigentümliche Figur in der geographischen Imagination, die Figur eines Forschers, der verschollen ist. Das Verschwinden jedoch findet unter Beobachtung statt, es wird in Erzählungen und Karten organisiert, es schreibt sich in Protokolle ein, die das Verschwinden wahrnehmbar machen und zugleich die Wahrnehmung eines homogenen geographischen Raums und die Bedingungen seiner Repräsentation formieren.
While, during the 19th century, the ›white spots‹ disappear from the maps, a peculiar figure appears in the geographical imagination: the figure of a researcher who has been lost. However, the disappearance takes place under observation, it is organized in narratives and maps, it is inscribed in protocols that make the disappearance perceptible and simultaneously form the perception of a homogeneous geographical space and the conditions of its representation.
Miroslav Petˇríˇcek: Zeigen im Verschwinden
Der Beitrag behandelt die Denkfigur des »Sich-Zeigens im Verschwinden« an der Schnittstelle zwischen Phänomenologie und Semiotik. Das Interesse an dieser Denkfigur bezeugt sich an den Phänomenen der Spur, der Ellipse oder des Geheimnisses, insbesondere in der französischen Philosophie seit den 1960er Jahren. Die leitende Frage lautet: Gibt es ein Erscheinen, das sich erst in seinem Verschwinden zeigt?
The article deals with the figure of thought »appearance in disappearance« at the interface between phenomenology and semiotics. The interest in this figure of thought manifests itself in the phenomena of the trace, the ellipse or the secret, especially in French philosophy since the 1960s. The main question is: Is there an appearance that appears only in its disappearance?
Matthew Solomon: Méliès und die Materialität moderner Magie
Der Artikel befasst sich mit den spezifischen Materialien, die dem Zauberkünstler und Kinopionier Georges Méliès seine Illusionen ermöglicht haben. Die Materialität, die die von ihm auf Bühne und Leinwand geschaffenen Illusionen bewerkstelligt, besteht gleichermaßen aus dem Einsatz von Elektrizität, Mechanik, Pneumatik, Optik, Akustik und Chemie. Der Einsatz dieser Ressourcen lässt sich nicht nach Theaterillusionen und Leinwandillusionen unterscheiden, vielmehr ist die Kopräsenz von theatralen und filmischen Techniken in der Reflexion über die von Méliès geschaffenen Effekte des Verschwindens zu berücksichtigen.
The article deals with the specific materials that enabled the Magician and cinema pioneer Georges Méliès to produce his illusions. The materiality that accomplished the illusions created by him on stage and screen consists equally of the use of electricity, mechanics, pneumatics, optics, acoustics and chemistry. The use of these resources can not be divided into theater illusions and screen illusions; on the contrary, any reflection on Méliès’ effects of disappearance has to consider the co-presence of theatrical and cinematic techniques.
Bettine Menke: im auftreten / verschwinden – auf dem Schauplatz und anderswo
Erscheinen und Verschwinden sind als Auf und Abtreten physische und symbolische Operationen, die sich auf die den Schauplatz abscheidend konstituierenden Grenze zwischen on-stage und backstage beziehen, aus dem das Geschehen auf der Bühne sich speist. Auftreten ist derart als ein riskanter und instabiler Vorgang zwischen Erscheinen und Verschwinden zu kennzeichnen. Am Beispiel zeitgenössischer Auseinandersetzungen mit den Bedingungen des Theaters, die die Bühne als Gefüge diverser Darstellungs-Flächen und -Räume nutzen, bekommt die Verwiesenheit der theatralen Präsentation auf das Anderswo einen spezifischen Witz für das Verschwinden: was hier ›verschwindet‹ ist irgendwo anders.
As entrances and exits, appearance and disappearance are physical and symbolic operations, which refer to the border between onstage and backstage that constitutes the scene and with it the action on stage. To make an entrance is thus a risky and unstable operation between appearance and disappearance. Using the example of contemporary explorations of the conditions of theater that use the stage as a structure of various presentation areas and -spaces, the dependence of the theatrical presentation on an Elsewhere produces a specific pun on disappearance: that which ›disappears‹ here is somewhere else.