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Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Band 60. Heft 2


Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft (ZÄK) 60/2. 2015. 160 Seiten.
2366-0740. eJournal (PDF)
DOI: https://doi.org/10.28937/ZAEK-60-2
EUR 68,00


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ABSTRACTS

Emmanuel Alloa: Produktiver Schein – Phänomenotechnik zwischen Ästhetik und Wissenschaft

Der Begriff der Phänomenotechnik, den Gaston Bachelard in den 1930er Jahren einführte, erfreut sich in der neueren Wissenschaftsforschung großer Beliebtheit, welche damit auf die technische und sozial vermittelte Dimension wissenschaftlicher Tatsachen hinweist. Im Zuge der allgegenwärtigen Rückkehr zu ›realistischen‹ Wirklichkeitsauffassungen wurde das Konzept der Phänomenotechnik mehrheitlich als ›konstruktivisches‹ Relikt verworfen. Der Beitrag schlägt eine alternative Lesart des Konzepts vor, in der es anstelle der These von der Konstruiertheit aller wissenschaftlicher Tatsachen um die spezifische Verbindung von Phänomenalität und Technizität geht: Was heißt es, davon auszugehen, dass dasjenige, was erscheint, nicht einfach gegeben ist, sondern immer erst zur Sichtbarkeit gebracht werden muss? Anstelle einer Technikauffassung, die Technik bloß auf Entlastung und auf die Fähigkeit des ›Übersehens‹ zurückführt (›Anästhesie‹ des Mediums), wird für eine Technikauffassung plädiert, die der eigentümlich hervorbringenden, aisthetisierenden Leistung des Technischen Rechnung trägt. Abschließend werden die Parameter einer noch zu schreibenden ›Techno-Ästhetik‹ benannt.


The notion of ‘phenomenotechnique’ which Gaston Bachelard introduced in the 1930’s has enjoyed popularity among historians of science who used it in order to insist upon the technical and social mediateness of scientific facts. In the wake of the current triumphal return to epistemological ‘realism,’ the idea of phenomenotechnique has been dismissed as an alleged relic of ‘constructivism.’ The article advocates for a different reading of ‘phenomenotechnique,’ which, rather than insisting on the fabrication of the scientific fact, highlights the intrinsic connection of phenomenality and technicality. Phenomena are not simply given, they must be brought to visibility. While philosophies of technique have mostly stressed that technicity consists in overlooking the process (the ‘anesthesia’ of the medium), the paper argues for a conception of technicity that makes space for its productive, aestheticizing capacity. Finally, the article gestures towards parameters of what a ‘techno-aesthetics’ could look like.

Christian Grüny: Hermeneutik in Bewegung. Meg Stuarts Tanzstück Built to last und das Verstehen der Musik

Die musikalische Hermeneutik ist ein umstrittenes Unternehmen, das heute vor allem für eine historisch-kulturwissenschaftliche Analyse musikalischer Bedeutungen steht. Daneben besteht aber eine wilde Alltagshermeneutik, in der das Verstehen mit dem alltäglichen Umgang mit Musik verwoben ist. Meg Stuarts Tanzstück Built to last wird gelesen als Reflexion auf diese Alltagshermeneutik. Es wendet Stuarts Technik der Erforschung und Verfremdung von Ausdrucksbewegung auf die Bewegung der und zur Musik an, und sein dezidiert »falscher« Umgang mit der klassischen Musik lässt mehr über deren Gegenwart erkennen als ein formalerer, »richtiger« Ansatz.

Musical hermeneutics is a controversial issue. Today it is primarily associated with historical research into musical meanings in the context of cultural studies. Besides this, there is an everyday hermeneutics where understanding is inextricably linked to the daily use of music. Meg Stuart’s dance piece Built to last is interpreted as a reflection of this everyday hermeneutics. It applies Stuart’s technique of researching and distorting expressive movement to the movement of and to music, and its decidedly “wrong” way of doing this reveals more about classical music’s presence than a more formal, “right” approach.

Robert Kirstein: Ficta et Facta – Reflexionen über den Realgehalt der Dinge bei Ovid

Die Ontologie fiktiver Objekte in fiktionalen Texten gehört zu den am meisten diskutierten Problemstellungen einer allgemeinen Fiktionalitätstheorie. Der Beitrag geht von Überlegungen Rudolf Hallers zum Realgehalt fiktiver Gegenstände aus und verbindet diese mit dem Modell der Possible Worlds Theory (PWT). Eine besondere Stärke dieser Theorie liegt darin, dass sie nicht allein zur Analyse der borders of fiction, die zwischen Realund Textwelt liegen, beiträgt, sondern insbesondere eine exaktere Differenzierung innerhalb der Textwelt selbst erlaubt, indem sie fragt, was auf Ebene einer Textual actual world (TAW) möglich, unmöglich und notwendig ist. Auf diese Weise lassen sich die Wunschwelten einzelner Figuren und ihre Konfrontation mit dem, was innerhalb einer Textwelt ›tatsächlich‹ aktualisiert wird, näher beschreiben und, wie im Fall von Ovids Exilgedichten Tristia, das literarische Spiel mit den unterschiedlichen Ebenen von Fiktivität analysieren.

The ontology of fictional objects in fictional literary texts is one of the most debated issues of a general theory of fiction. This contribution starts out from considerations by Rudolf Haller, connecting them with the model of the Possible Worlds Theory (PWT). A particular strength of this theory is that it does not only analyse the borders of fiction, which lie between the real and the text world, but that it offers in particular a more accurate differentiation within the text world itself by drawing attention to the issue of what is possible, impossible and necessary within a Textual actual world (TAW). In this way, for example, the ‘Wunschwelt’ of individual characters and their confrontation with what will be possible or actual within a particular text world, can be described in detail and, as in the case of Ovid’s exile poems Tristia, the literary play with different levels of fictitiousness can be analysed.

Thorn-R. Kray: Nothing Left to See. Arnold Gehlen on Why Contemporary Art Needs Commentary

Warum ist die Sprache der gegenwärtigen Kunstkritik so gesättigt mit Theorie und klingt zugleich so inhaltlich leer? Ausgehend vom Beispiel einer computergenerierten Künstlerbiographie sucht dieser Beitrag die gestellte Frage zu beanworten, indem er auf die soziologische Ästhetik Arnold Gehlens zurückgreift. Um den Gegenstand des Kunstkommentares richtig zu greifen, diskutiert er nach dem generellen Problemaufriss die Tradition der Ekphrasis, der Übertragung visueller in textuelle Repräsentationsformate, und isoliert dabei drei Entwicklungen – Professionalisierung, Ökonomisierung und Abstraktion – in ihrer Produktionsgeschichte. Mit dem Hinweis auf die ›Krise der Ekphrasis‹, bedingt durch das Erscheinen nicht-repräsentationaler Kunst, wendet sich der Beitrag seinem Kronzeugen Arnold Gehlen zu. Dessen Philosophische Anthropologie wird umrissen und mit den Gedanken aus Zeitbilder (1960) kurzgeschlossen, deren zentrale Hypothese die »Kommentarbedürftigkeit« (insbesondere) der zeitgenössischen Malerei ist. Im Kontext von Gegenwartsdebatten der Kunsttheorie kombiniert der Artikel dieses Konzept Gehlens mit linguistischen Untersuchungen über den heutigen Zustand der Sprache der Kunstkritik und bietet im letzten Abschnitt eine kritische Erklärung und (pessimistische) Diagnose des Kunstkommentars wie man ihn heute in Fachmagazinen, Feuilletons und Vernissagen findet.

Why does the language of art commentary often seem so theoretically sophisticated while jargonistically empty? Introducing the puzzle of a computer generated artistic biography, this essay uses the sociological aesthetics of German theorist Arnold Gehlen to answer this question and account for the ‘algorithmic example.’ Since art commentary deals with the translation of images into words, the first section discusses the tradition of ekphrasis and isolates three developments – professionalization, marketization, abstraction – in its conditions of production. Emphasizing the ‘crisis of ekphrasis,’ set off by non-representational art, the essay continues with its key witness Arnold Gehlen. Adumbrating his approach of ‘philosophical anthropology,’ the article connects (t)his wider circle of thought to his aesthetic theory with the idea of modern and contemporary art’s “Kommentarbedürftigkeit” (need of commentary) in the center. The conclusion uses this concept, combines it with a linguistic argument concerning International Art English, and thus offers a critical explanation for and a pessimistic diagnosis of the language of art commentary today.

Burkhard Liebsch: Nicht normalisierbares Leben – Was Aristoteles’ Politik, Friedrich Schillers »ästhetische Erziehung« und Giorgio Agambens »Lebensformen« miteinander verbindet. Zum Verhältnis von Ästhetik, Sozialphilosophie und Geschichte

Ausgehend vom sozialphilosophisch grundlegenden Begriff der Lebensform (bíos), der im Mittelalter durch die Dualität einer forma vitae, ersetzt wird, zeigt dieser Aufsatz mit kritischem Bezug auf F. Schiller und G. Agamben, welche Folgen sich daraus bis heute für das ästhetische Interesse an Lebensformen ergeben, die nicht in ihrer Normalität aufgehen.

Beginning with the social-philosophical notion ‘form of life’ (bíos) that in the middle ages is supplanted with the duality of a forma vitae this essay points out with critical reference to F. Schiller and G. Agamben the consequences which result therefrom with respect to aesthetic interest in forms of life that cannot be completely normalized.

Ian Verstegen: Britsch’s Lesson – Synthetic Cubism as Gestalt-Perception

Man hat Rudolf Arnheims Theorie der Wahrnehmung eingesetzt, um die einflussreiche Deutung des Synthetischen Kubismus, wie sie von Rosalind Krauss und Yve-Alain Bois vertreten wurde, als zeichenartigen Prozess zu kritisieren. Während dieses Argument auf theoretischer Ebene überzeugen kann, ist es auf historischer Ebene weniger stimmig: Anders als die Ausführungen von Picassos Kunsthändler Daniel-Henry Kahnweiler, auf die sich Bois bezieht, formuliert Arnheim seine Überlegungen erst in den fünfziger Jahren. Der vorliegende Aufsatz möchte Arnheims argumentativen Stellenwert stützen, indem er die Theorie von Gustaf Britsch als eine historische Verbindung anführt, die Arnheims spätere und genauere Theorie beeinfl sste. Britsch entwickelte eine frühe Theorie der Gestaltwahrnehmung, mit der sich die Innovationen des Synthetischen Kubismus erklären lassen.

Rudolf Arnheim’s theory of perception has been used to challenge the highly influential account of synthetic Cubism as a sign-like process of Rosalind Krauss and Yve-Alain Bois. While the use of Arnheim’s idea of perceptual substitution works in a theoretical sense, it is less successful as a historical argument, because unlike Picasso’s art dealer, Daniel-Henry Kahnweiler, who is discussed by Bois, Arnheim’s ideas weren’t formulated until the 1950s. This article enriches the theoretical argument made on behalf of Arnheim by supplying the theory of Gustaf Britsch as a historical link that fed Arnheim’s later rigorous theory. Britsch articulated an early theory of perceptual substitution, a kind of Gestalt-perception, that is capable of accounting for the innovations of Synthetic Cubism.

Rahel Villinger: Form und Mimesis. Elemente frühromantischer Kunsttheorie bei Husserl, Benjamin und Adorno

Der Aufsatz diskutiert einen Begriff ästhetischer Form als werkimmanente Reflexion bei Benjamin und Adorno (Abschnitt I). Anhand der Eröffnungspassage von Novalis’ Hymnen an die Nacht wird dieser Begriff, der selbst frühromantischer Provenienz ist, exemplarisch verdeutlicht. Dabei zeigt sich, dass ästhetische Formcum-Reflexion an eine spezifische Ähnlichkeitsbeziehung oder Mimesis gebunden ist (Abschnitt II). Mittels Ressourcen der Husserlschen Theorie des ästhetischen Bildbewusstseins lässt sich dieses Verhältnis von Mimesis und Form genauer fassen (Abschnitt III). Demnach konvergiert die Reflexion der Form mit einer mimetischen Bewegung zwischen dem Dargestellten und dem (sich) Darstellenden in einem Bild (Abschnitt IV). Der Aufsatz macht so eine vernachlässigte Entwicklungslinie frühromantischen Formdenkens im 20. Jahrhundert sichtbar, dessen Paradigma einer Korrelation von Form und Mimesis Bildwissenschaft wie Ästhetik transdisziplinär prägt.

The article discusses a notion of form as reflection in Benjamin and Adorno that can be traced back to early German Romanticism. A reading of Novalis’s Hymns to the Night exemplifies the notion and shows that form-as-reflection amounts to a mimetic relation between Dargestelltem and Darstellendem in a work of art. It is further argued that Husserl’s theory of the image, too, discusses this relation and allows to clarify the account of form in Benjamin and Adorno. The article thus reveals a neglected development of a romantic paradigm of form in 20th century image theory and aesthetics.