ABSTRACTS
Georg Bertram: Autonomie als Selbstbezüglichkeit – Zur Reflexivität in den Künsten
Wie kann ästhetische Autonomie begriffen werden, ohne daß man den Zusammenhang zwischen Kunst und menschlicher Praxis nicht mehr erläutern kann? Der vorliegende Aufsatz geht von der These aus, daß Hegel umwillen einer Erläuterung dieses Zusammenhangs die ästhetische Autonomie verfehlt. Er vermag es nicht, die sinnlich-materialen Momente eines Kunstwerks in ihrer Eigenständigkeit zu begreifen. Goodman korrigiert dieses Defizit mit dem Begriff der Exemplifikation. Aber auch in seiner Erläuterung der Bedeutung eigenständiger sinnlich-materialer Momente wird keine Autonomie des Ästhetischen begreiflich. Ich argumentiere, daß sich dieses negative Ergebnis vermeiden läßt, wenn man die selbstbezügliche Konstitution sinnlich-materialer Gestaltungen in einem Kunstwerk als Basis der ästhetischen Autonomie versteht. Ein solches Verständnis erlaubt es zugleich, die besondere Wirksamkeit von Kunst in Bezug auf die menschliche Praxis zu begreifen.
How is aesthetic autonomy to be conceived if one does not want to lose an explanation of the connection between art and human practice in general? The starting point of the present paper is the claim that Hegel overlooks aesthetic autonomy because he wants to explain how art is operative within human practice. He does not conceive the sensuous-material aspects of art- works in their independence. Goodman’s notion of exemplification corrects this shortcoming. But his explanation of the relevance of independent sensuous-material aspects of artworks fails to give us an understanding of aesthetic autonomy, too. I argue that it is possible to avoid such a negative conclusion if one understands the self-referential constitution of sensuous-material shapings in an artwork as the basis of aesthetic autonomy. At the same time, such an under- standing allows for a conception of the potency of art within human practice.
Bernd Dollinger und Bettina Hünersdorf: Graffiti als Version und Subversion – Praxen kultureller Re-regulierung und die Möglichkeit von Graffitiforschung
Der Beitrag geht von Versuchen aus, integrative Perspektiven einer überaus heterogenen Graffitiforschung zu bestimmen. In Auseinandersetzung insbesondere mit Bruno Latours Ansatz des »Iconoclash« wird eine kulturtheoretische Referenz bestimmt, die Graffiti als Version identifiziert, d. h. als semiotisch orientierte Veränderung räumlich situierter Ordnungs- und Regulierungspraxen. Ihnen kann, wenn auch nicht zwingend, eine subversive Qualität zukommen. Durch die Ausrichtung am Konzept einer Version wird beansprucht, Forderungen einer normativ weitgehend abstinenten, nicht-essentialistischen und für komplexe Fragen der Identitäts- und Raumpolitik offenen Forschungspraxis einzulösen.
The contribution attempts to integrate multiple perspectives of current largely heterogeneous graffiti scholarship. Referring to Bruno Latour’s concept »iconoclash«, we discuss graffiti from a cultural-theoretical point of view as a »version«. It appears as a semiotically oriented modification of spatially situated practices that regulate social life. Often, but not necessarily, these practices involve subversive qualities. The concept of »version« facilitates a non-normative and non-essentialist strategy of research. This enables an explorative research practice in which the complex matters of identity and space politics that are associated with graffiti can be addressed.
Brigitte Hilmer: Kunst als reflexive Form und als reflektierende Bewegung
Kunst kann dann als reflexiv interpretiert werden, wenn Reflexivität nicht auf propositionalen Gehalt oder sogar sprachliche Artikulation angewiesen ist. Reflexion tritt auf in den Modi der Selbstbeziehung des Lebendigen, des Überlegens und der Selbstreferenz im Symbolischen. Kunst ist ein Reflexionsmedium, das diese Modi beansprucht und miteinander verflicht. Eine spezifisch ästhetische Reflexivität ist von und nach Kant nach dem Vorbild der transzendentalen Reflexion und in Konkurrenz zu ihr etabliert worden. Sie läßt sich als Reflexivität des ästhetischen Urteils, als emphatisches Gemachtsein, als Rückwendung auf Wahrnehmungsvollzüge oder als Begriffsreflexion verstehen. Dabei wird die Unterscheidung von Anschauung und Verstand in deren Zusammenspiel oder Abspaltung vorausgesetzt. Von der Analogie zur transzendentalen Reflexion löst sich aber erst ein Verständnis von ästhetischer Reflexivität, das von den drei Modi und ihrer Verflechtung ausgeht.
Reflexivity does not presuppose linguistic articulation or even propositional content. If it did, art could not be called reflexive. Reflexivity can be found in the self-contact of the living, in mental reflection or in symbolic self-reference. Art is a medium which claims these different modes of reflexivity and intertwines them. Aesthetic reflexivity as such has been established by Kant and his epigones, following the model of transcendetal reflection. Thus it could be specified as the reflexive structure of aesthetic judgement, or as an emphasis on a work’s being created, or as a reference to perception itself in the process of perceiving, or as a way of reflecting concepts. Aesthetic reflexivity can only be detached from the model of transcendental reflection, if it is seen as oriented towards the interaction among the three modes of reflection mentioned above, leaving aside the difference, interplay or competition between perception and conceptual capacities.
Oliver Jahraus: Der fatale Blick in den Spiegel – Zum Zusammenhang von Medialität und Reflexivität
Der Beitrag untersucht den Zusammenhang von Reflexivität und Medialität (das, was ein Medium zum Medium macht), indem er die Idee der Reflexion an den konkreten Formen von Spiegelungen in Literatur und Film wie zum Beispiel Doppelgänger oder Figurenspaltungen darstellt. Dabei zeigt sich, daß jedes Medium autoreflexiv verfasst ist und daß die Vorstellung von Subjektivität seit dem 18. Jahrhundert selbst auf diesem Zusammenspiel von Reflexivität und Medialität beruht. Das Subjekt gilt demnach als reflexiver Effekt der Medialität, wie es an einer Betrachtung von Foucaults berühmter Meninas-Interpretation nachverfolgt werden kann.
This article analyses the relation between reflexivity and mediality (what makes a medium a medium) by presenting concrete situations of optical and specular reflections in literature and film, such as doubles (Doppelgänger) and split figures. Thus it can be shown that since the 18th century every medium is self-reflexive and that the concept of subjectivity has its basis in the interplay of reflexivity and mediality. The subject is an effect of medialitity as may be demonstrated by a new recapitulation of Foucault’s famous Meninas-interpretation.
Simone Mahrenholz: Piktoriale Reflexivität – (Nach-)Denken über Bilder als Denken in Bildern
Der Text untersucht, inwiefern wir von »bildlichem Denken« sprechen können, insbesondere mit Bezug auf Kunst: Denken in Bildern also statt allein in Worten. Er verbindet diese Frage mit dem Konzept der konstitutiven Reflexivität der Kunst. Hierfür werden drei Bedeutungen von ästhetischer Reflexivität unterschieden und zu einander in Bezug gesetzt (Teil I): Reflexivität der Kunst im Sinne des Bezugnehmens und damit des Thematisierens, Reflektierens von etwas außerhalb des Werks: der Welt und./.oder des Selbst (R1), ferner Reflexivität im Sinne des materialen Selbst-Rückbezugs des Werks auf Züge seiner selbst (R2) sowie Reflexivität im Sinne des Selbst-Rückbezugs in Form einer Transformation des Subjekts im Prozeß der künstlerischen Erfahrung (R3). Die nähere Erläuterung an Beispielen zeigt, daß und inwiefern diese drei Formen zwar immer interagierend präsent sind, jedoch in verschiedenen Epochen und Stilen mit deutlich unterschiedlichen Akzentuierungen (Teil II). Abschließend wird die These aufgestellt (Teil III), daß diese Folge von Reflexivitäts-Akzenten Entwicklungen in der Kunst des 20. Jahrhunderts spiegelt.
The text examines forms of »pictorial thinking«, in particular with regard to artworks: thinking »in pictures« as analogous to thinking in words. It relates this topic to the concept of reflexivity in art. Three forms of aesthetic reflexivity are distinguished and related to each other (part I): reflexivity in the sense of reflecting, thematizing states of affairs outside the work: the world and./.or the self (R1), second: reflexivity as material self-reference within the artwork (R2), third: reflexivity as transformation of the subject in the process of the aesthetic experience (R3). The subsequent elucidation makes evident, that these forms of reflexivity never occur alone, but interact. Nevertheless, depending on the epoch and style of the work in question, distinctive emphases and accentuations arise, one of which generally dominates the others: (part II). As an upshot, the text suggests that this succession of reflexivity-forms from R1 to R3 mirrors developments in 20th century art (part III).
Frank Ruda: Radikale Reflexion – Phänomenologie der Kunst bei Merleau-Ponty
Der Beitrag untersucht Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung als eine Phänomenologie der Kunst. Die dominante Rolle, die Beispiele aus den Künsten in dem Text einnehmen, läßt sich zunächst daraus erklären, daß Kunstwerke eben diejenige Dynamik und Verfaßtheit eines Reflexionsgeschehens zeigen, die das phänomenologische Projekt als solches zu entfalten sucht. Darüber hinaus wird es durch die Konfrontation mit künstlerischen Werken über sich selbst hinaus – oder besser: zu einer Reflexion seiner selbst getrieben. Dieser von der Kunst ausgehend entwickelte »neue Stil« der Reflexivität wird als »ästhetische Inkorporation« diskutiert.
The paper discusses Merleau-Ponty’s Phenomenology of Perception as a phenomenology of art. The prevalence of examples from the arts in his text indicates that works of art possess the very same dynamic of reflexivity that the phenomenological project as a whole seeks to develop. Furthermore, by way of confrontation with works of art, the project is driven to transcend itself – or more precisely: to reflect itself. This »new style« of reflexivity may be discussed as »aesthetic incorporation.«
Arno Schubbach: Selbstbezügliches Schwarz? Zur Reflexivität von Bildern
Die Selbstbezüglichkeit von Bildern ist in den kunst- und bildtheoretischen Diskussionen ein viel behandeltes Thema. Es wird jedoch selten geklärt, worin sie besteht und wie sie sich vollzieht. In Anlehnung an Niklas Luhmann schlägt dieser Artikel ein Modell von Reflexivität vor: Jeder Selbstbezug vollzieht sich durch ein oft auffälliges bildliches Element, das im visuellen Gefüge konkret bestimmt wird und den Blick so nicht auf das Bild im Ganzen, sondern auf einen seiner spezifischen Aspekte lenkt. Dieses Modell charakterisiert Reflexivität als Dimension von bildlichen Darstellungen im Allgemeinen und unterscheidet sie ebenso von künstlerischer Reflexion wie motivisch-thematischen Selbstbezügen.
The reflexivity of images is often dealt with in theoretical discourse on art and image. Yet what reflexivity consists of and how it proceeds within images is seldom clarified. Following a basic idea taken from Niklas Luhmann, this article proposes a model of reflexivity, namely: Each self-reference often proceeds by a conspicuous iconic element, which is concretely determined within the visual arrangement and thus draws the beholder’s attention not to the image as a whole, but to one of its specific aspects. This model characterizes reflexivity as a dimension of iconic representation in general and distinguishes it from mere artistic reflection and thematic self-reference.
Leander Scholz: Freiheit, Gleichheit, Sinnlichkeit – Jacques Rancière, Hegel und die holländische Malerei
Der Aufsatz geht der These nach, daß die Fundierung der politischen Theorie in einer ästhetischen Theorie bei Jacques Rancière eine Aktualisierung der Losung der Brüderlichkeit aus der Französischen Revolution darstellt. Diese Aktualisierung der Brüderlichkeit als »ästhetische Gemeinschaft« erlaubt es Rancière, an den Klassenbegriff von Marx anzuschließen, ohne die damit verbundene Gemeinschaftserfahrung begrifflich bestimmen und damit an positive Merkmale binden zu müssen. Weil Rancière seine Demokratietheorie vor allem als eine Interventionstheorie angelegt hat, soll die »ästhetische Gemeinschaft« im Unterschied zum Klassenbegriff es ermöglichen, eine prinzipiell unabgeschlossene Reihe von politischen Subjektivierungsprozessen zu denken. Um diese These zu schärfen, wird Rancières Demokratietheorie mit der von Jacques Derrida verglichen, der auf ganz ähnliche Weise das Demokratische der Demokratie in einem Streit gegeben sieht, der jenseits von demokratischen Spielregeln stattfindet, die Losung der Brüderlichkeit jedoch für überaus problematisch hält.
This article argues that the foundation of political theory in aesthetics by Jacques Rancière can be seen as an actualization of the slogan of fraternalism during the French Revolution. This actualization of fraternalism as »aesthetic community« gives Rancière the possibility to operate with the Marxian concept of classes without positively defining the experience of community. Because Rancière understands democracy as the chance for political intervention, the concept of an »aesthetic community« (as opposed to the traditional concept of classes) allows him to posit an endless process of political subjectification. To sharpen this argument, the article compares Rancière’s understanding of democracy to Jacques Derrida’s, who also focuses on a democratic struggle beyond democratic rules, but is very skeptical about the slogan of fraternalism.
Matthias Vogel: Musik als Medium der Reflexion?
Es ist eine weithin geteilte Auffassung, daß die Musik nicht nur etwas ist, das wir verstehen können, sondern auch etwas, das uns eine spezifische Form der Reflexion erlaubt. Der vorliegende Artikel soll deutlich machen, daß wir der ersten Vorstellung nur zustimmen können, wenn wir das Verstehen von Musik nicht als das Er- fassen ihrer Bedeutung erläutern, sondern als das Erfahren ihres Sinns. Weil Musik weder eine informativ angebbare Bedeutung noch eine prädikative Struktur hat, dies aber gleichermaßen Voraussetzungen dafür wären, die Rolle eines Mediums der Reflexion übernehmen zu können, läßt sich auch an der zweiten Vorstellung nur in einer bescheidenen Fassung festhalten, der zufolge die kognitive Funktion der Musik nicht darüber hinaus geht, als Instrument unserer auf sprachlichen Kompetenzen ruhenden Reflexion dienen zu können.
According to a widely shared notion, music is not only something that we can understand, but moreover something that gives us access to a specific form of cognitive reflection. This paper suggests that the first part of this notion is only plausible if musical understanding is not explained in terms of grasping the meaning of music, but in terms of experiencing its sense. Music has neither a classifiable meaning full content nor a predicative structure, both of which are necessary in order for a medium of reflection. Therefore, the second part of this notion can only be defended in a rather modest way, insofar as the cognitive function of music is limited to its role merely as a means that serves our otherwise language-based reflexive competence.
Jörg Zimmer: Der Spiegel der ›Meninas‹. Velázquez und das Problem der Kunst
Die vorliegende Abhandlung versucht die These zu begründen, daß das Gemälde Las Meninas von Diego Velázquez eine kunsttheoretische Reflexion enthält, die drei wesentliche Fragen der Ästhetik im Medium der Malerei behandelt: die Frage nach dem Künstler, dem Werk und seiner Rezeption. Zur Begründung dieser These wird zunächst der Bildgehalt unter der Voraussetzung analysiert, Velásquez habe vor einem Spiegel gearbeitet, um dann die an der Beschreibung des Gemäldes gewonnenen ästhetischen Probleme kunstphilosophisch zu entfalten und mit der Frage zusammenzufassen, in welchem Sinn die Spiegelung als ein Modell für die Struktur des Kunstwerks verstanden werden kann.
This paper tries to argue the thesis that the painting Las Meninas by Diego Velázquez contains a reflection about art, which deals in the medium of painting with three of the most important problems of aesthetics: the problem of the artist, the artwork and its reception. In order to prove this thesis, the paper analyses the picture with the assumption that Velázquez worked in front of a mirror. Furthermore, the aesthetic problems detected in the painting are developed in terms of a philosophy of art, concluding with the question of how mirroring can be considered a model for the structure of the artwork in general.