Abstracts
Frank Ruda: Mut zurzeit
Der Beitrag verhandelt den Begriff des Muts und beginnt diese Verhandlung ausgehend von der Frage, wie eine Kategorie, die die Geschichte der Philosophie zu durchziehen scheint, gegenwärtig an Relevanz und Einfluss verlieren kann. Er identifiziert den Grund dafür in der aristotelischen Bestimmung des Muts als männlich-militärischer Tugend und setzt dieser Bestimmung in der Folge eine Neubestimmung entgegen, die zu denken versucht, was weiblicher Mut sein kann.
The paper discusses the concept of courage, starting from the question of how it is possible that a category, which seems to permeate the history of philosophy, currently loses its relevance and influence. It identifies the rea- son for this in the Aristotelian definition of courage as a male and military virtue, and subsequently confronts it with a new definition, trying to imagine what female courage could be like.
Hans-Christian von Herrmann: Das Projektionsplanetarium als hyperreales Environment
In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wurde im Jenaer Zeiss-Werk im Auftrag des Deutschen Museums in München das Projektionsplanetarium als immersives Modell des Universums entwickelt. In ihm hallte eine lange Geschichte von Himmelsgloben, Armillarsphären, Astrolabien und mechanischen Planetarien nach, die seit der Antike als astronomische Demonstrationsobjekte gedient hatten. Erstmals aber fand sich diese Aufgabe nun mit einer Simulation des raum-zeitlichen In-der-Welt-Seins des Menschen verbunden.
In the years following the First World War, commissioned by the German Museum in Munich, the projection planetarium was developed as an immersive model of the universe at the Zeiss plant in Jena. In it, a long history of celestial globes, armillary spheres, astrolabes, and mechanical planetaria resonated, which had served as astronomical demonstration objects since ancient times. For the first time, however, this task was associated with a simulation of man’s spaciotemporal being-in-the-world.
Karen van den Berg: Zur Epistemologie gegenwärtiger Zeigeregime: Louvre Lens und der Apple Store am Union Square in San Francisco
Wie kommt es, dass sich der Flagship-Store eines Technikkonzerns präsentiert wie eine öffentliche Kunsthalle, während die Dependance des Louvre in Nord-Pas-de-Calais wirkt, als würde man eine iPad-Benutzeroberfläche betreten? Der Beitrag liefert eine Analyse des Louvre Lens und beleuchtet das Projekt in Hinblick auf seine verblüffenden ästhetischen Familienähnlichkeiten in Materialsprache, Struktur und Atmosphäre zu neueren Apple Stores. Dabei wird versucht, die kulturellen und mentalitätsgeschichtlichen Codes zu entziffern und zu plausibilisieren, dass sich hier eine Epistemologie entfaltet, die die Welt als simultan präsentes Symbolsystem begreift.
How is it that the flagship store of a technology company presents itself as a public arthall, while the branch of the Louvre in Nord-Pas-de-Calais looks like the user interface of an iPad? The paper provides an analysis of the Louvre Lens and illuminates the project in terms of its stunning aesthetic similarities in material language, structure and atmosphere to recent Apple Stores. Furthermore, it attempts to decipher the cultural and mental-historical codes and argues that an epistemology is developing here which comprehends the world as a simultaneous symbolic system.
Vittorio Hösle: On Some Specific Traits of Russian Culture. Changes and Continuities Between the PreSoviet, the Soviet, and the PostSoviet Phase
The essay discusses the question in which sense there are continuities between the pre-Soviet, the Soviet, and the post-Soviet phase of Russian culture. It discovers in the rejection of the bourgeois value system an important constant factor. Even if originally rooted in the specific orthodox Christian sensibility, it helped prepare the Soviet revolution and survived even after 1991. From the Song of Igor’s Campaign to Tolstoy’s dramas, Eisenstein’s films and his film theory, and Maxim Kantor’s iconic interpretations of the late Soviet Union and its aftermath the essay tries to unveil crucial features of Russian culture.
Der Aufsatz diskutiert die Frage, in welchem Sinne es Kontinuitäten zwischen der vor-sowjetischen, der sowjetischen und der post-sowjetischen Phase der russischen Kultur gibt, und entdeckt in der Ablehnung des bürgerlichen Wertesystems einen wichtigen konstanten Faktor. Auch wenn sie ursprünglich in der spezifischen orthodoxen christlichen Sensibilität verwurzelt war, half sie, die sowjetische Revolution vorzubereiten, und überlebte auch noch nach 1991. Von dem Igorlied bis hin zu Tolstois Dramen, Eisensteins Filmen und Filmtheorie sowie Maxim Kantors ikonischen Interpretationen der späten Sowjetunion und ihren Nachwirkungen enthüllt der Aufsatz entscheidende Merkmale der russischen Kultur.
Maria Muhle: Praktiken des Inkarnierens: Nachstellen, Verkörpern, Einverleiben
Die medienästhetische Rede vom Inkarnieren, der Verkörperung oder dem embodiment teilt mit dem theologischen Verständnis der Inkarnation als ›Fleischwerdung‹ die Annahme eines möglichen Übergangs von einem immateriellen Prinzip zu etwas genuin Materiellem. Ästhetische Verkörperungen wurden zuletzt vermehrt unter dem Schlagwort des reenactment diskutiert, das darauf abzielt, eine historische Situation nach-erlebbar und damit zugänglicher zu machen. Verkörpernde Nachstellungen müssen aber nicht ausschließlich einer solchen identitären Logik verpflichtet sein, sie können vielmehr auch exzessive, hypermimetische Effekte produzieren, wie anhand der Besessenheitsrituale der Hauka und ihrer filmischen Verarbeitung durch Jean Rouch in Les Maîtres Fous gezeigt werden kann.
Just as the theological notion of incarnation, the media-aesthetic term ›embodiment‹ implies a transition from an immaterial principle to something genuinely material. Aesthetic embodiments are increasingly discussed un- der the keyword ›reenactment,‹ which aims to re-experience a historical situation and thus make it more accessible. Reenactments, how- ever, do not have to be bound exclusively to such a logic of identity; instead, they can also produce excessive, hypermimetic effects, as can be shown with reference to the obsession rituals of the Hauka and their cinematic adaptation in Les Maîtres Fous by Jean Rouch.
Stephan Gregory: Imagination, Kombination, Defiguration. Monstropoetiken des 18. Jahrhunderts
Untersuchungen zur Poetologie des Ungeheuers oder zur Ästhetik des Monströsen im 18. Jahrhundert haben sich bisher fast ausschließlich mit dem Paradigma der ›weiblichen Einbildungskraft‹ beschäftigt. Im Mittelpunkt dieses Aufsatzes stehen dagegen Holbachs und Diderots Theorien der Monstrogenese, die einen radikalen Bruch mit dem Modell der Imagination, der Ähnlichkeit und der Autorschaft verfügen. Deren interessanteste ästhetische Konsequenz bildet das neue Denken des Ungeheuren, wie es gegen Ende des 18. Jahrhunderts u. a. in der Malerei Goyas hervortritt.
Studies in 18th century poetics and aesthetics of the monstrous have so far been concerned almost exclusively with the paradigm of ›feminine imagination.‹ This paper, in turn, focuses on Holbach’s and Diderot’s theories of ›monstrogenesis‹, which articulate a radical break with the model of imagination, similarity and authorship. One of their most interest- ing aesthetic consequences is the new thinking of monstrosity as it appears at the end of the 18th century in Goya’s paintings.
Helga Lutz: Mit Puppen Spielen. Gefährliche Mimesis
Der Text vergleicht zwei fetischistische Puppenexperimente des 20. Jahrhunderts. Auf der einen Seite steht der vielbeachtete Versuch Oskar Kokoschkas, die verlorene Alma Mahler durch eine lebensechte Puppe zu ersetzen. Auf der anderen Seite geht es um die verborgen gehaltenen Bücher des Schweizer Einsiedlers Armand Schulthess, bevölkert von Hunderten von erotischen Collage-Frauen, die kunstvoll zusammengeklebt, vernäht und ineinander gefaltet sind. So unterschiedlich das zugrundeliegende fetischistische Ritual auch ausfällt, so zeigt sich in beiden Anordnungen doch eine grundlegende Übereinstimmung: In beiden Fällen nimmt das Inkarnieren die Form einer Operationskette an, die das Bild ins Register einer mimetischen Transformationsontologie überstellt.
The paper compares two fetishistic experiments with puppets of the 20th century. On the one hand, there is Oskar Kokoschka’s much discussed attempt to replace the lost Alma Mahler with a life-size doll. On the other hand, the paper treats the secret books of Swiss hermit Armand Schulthess, populated by hundreds of erotic women, which are artfully glued, sewn and folded together. However different the underlying fetishistic ritual may be, the two groups show a fundamental agreement: In both cases, the process of incarnating becomes a chain of operations, translating the image into the register of a mimetic ontology of transformation.
Hans-Rudolf Meier: Verkörpern, Verwandeln und Autorisieren mittels Spolien
Spolien – intentional wiederverwendete Bauglieder – referenzieren auf etwas nicht mehr Vorhandenes und machen dieses zugleich materiell präsent. Als einstiger Teil des Ab- wesenden verweisen sie im neuen Kontext zurück auf ihre Herkunftsobjekte. Sie verkörpern abstrakte Konzepte, Autorisierung und Authentisierung. In den präsentierten Bei- spielen werden verschiedene Ähnlichkeitsbezüge zum Herkunftsmonument diskutiert, die von formalen Referenzen über die exzessive Verkörperung zur formlosen Verarbeitung des Materials in einer neuer Oberfläche reichen.
Spoils – intentionally reused architectural fragments – refer to something that no longer exists and re-present it materially. As a former part of the absent, they refer back to their original objects in their new context. They embody abstract concepts, authorization and authentication. In the examples presented, different ways of referring to the original monuments are discussed, ranging from formal references to excessive embodiment and complete loss of shape.
Christiane Voss: Mimetische Inkorporierung am Beispiel taxidermischer Weltprojektionen
Die Ablehnung der Mimesis, verstanden als ein Anspruch von Darstellungen auf Naturnachahmung, ist ein charakteristischer Grundzug moderner Ästhetik und Erkenntnistheorie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Parallel dazu existieren zeitgleich im Raum wissensbildender Institutionen wie den Naturkundemuseen Dispositive, etwa die Habitat-Dioramen, die das traditionell mimetische Ideal auf kreative Weise aufrechterhalten. Diese vermeintlich anachronistischen Dispositive werden hinsichtlich ihrer mimesisproduktiven Dimensionen medienphilosophisch reflektiert und zu Adornos Mimesisverständnis ins Verhältnis gesetzt.
The rejection of mimesis, understood as a depiction’s claim on imitation of nature, has been a characteristic feature of modern aesthetics and epistemology since the end of the 19th century. At the same time, there are also dispositives, such as habitat dioramas, which creatively maintain the traditionally mimetic ideal in the space of knowledge-building institutions such as museums of natural science. These supposedly anachronistic dispositions are reflected in media-philosophical terms with regard to their dimensions of mimesis production and are related to Adorno’s understanding of mimesis.