Abstracts
Heiko Christians: Reflexionen über Wiederholung. Oder: Welche Disziplin ist eigentlich zuständig für Kurt Tucholskys Pyrenäenbuch(1927)?
Der Aufsatz fragt am Beispiel von Tucholskys Pyrenäenbuch von 1927 nach den Möglichkeiten disziplinärer Zuständigkeiten und methodisch gesteuerter Interpretationen im Feld der Kulturwissenschaft. Gibt im Falle des Pyrenäenbuchs die aus Sicht der Medienwissenschaft avancierte Kombinatorik von Text und Photographie die Auslegung vor oder lässt sich jenseits dieser etablierten medienwissenschaftlichen Theorie-Topik dem Text selbst noch ein anderer konkurrenzfähiger Auslegungshorizont abgewinnen? Gelesen im Umfeld von Arnold Gehlens Refl exionen über Gewohnheit (1927) und Walter Benjamins Kunstwerk-Aufsatz wird Tucholskys Reisebuch lesbar als aktualisierte Kierkegaard-Lektüre und damit als systematische Abhandlung über mediale Gebrauchsweisen und Praktiken im Zeichen der Wiederholung.
Drawing upon the example of Tucholsky’s 1927 Pyrenäenbuch [Book of the Pyrenees], the paper inquires into the possibilities of disciplinary competences and methodology-driven interpretations in the fi eld of cultural studies. It asks whether in the case of the Pyrenäenbuch, the combination strategies of text and photography necessarily predetermine the interpretation, or whether there are other competitive horizons of interpretation beyond this wellestablished theoretical topos of media studies. If it is read in the context of Arnold Gehlen’s 1927 Reflexionen über Gewohnheit [Refl ections on habit] and Walter Benjamin’s Kunstwerkessay, Tucholsky’s Reisebuch [Book/journal of voyages] presents itself as an contemporary reading of Kierkegaard and thus as a systematic discussion of medial usages and practices under the sign of repetition.
Monika Dommann: Wertspeicher: Epistemologien des Warenlagers
Der Text geht von der These aus, dass nicht, wie oft behauptet, eine Virtualisierung, sondern eine Vergegenständlichung und Materialisierung den Kapitalismus auszeichnet. Dabei werden Warenlager als materialisierte Form des industriellen Kapitalismus hinsichtlich ihrer epistemischen Produktivkraft untersucht. Im Zentrum steht dabei die Entstehung eines neuen handelswissenschaftlichen und volkswirtschaftlichen Wissenskorpus, das in die Praxis der Warenlagerung interveniert. N ach der Weltwirtschaftskrise von 1920/21 wird die Vorratshaltung in Frage gestellt und es beginnt eine neue Epoche der Warenlagerwissenschaften, deren Folgen auch bei der Formulierung von Konjunkturtheorien thematisiert werden.
The paper presents the thesis that, in contrast to the conventional claim, capitalism is not characterized by virtualization, but by objectifi cation and materialization. As materialized forms of industrial capitalism, warehouses are investigated with regard to their epistemic productivity. Central for the argument is the emergence of a new body of knowledge concerning commercial and economic sciences, which figures decisively in the practice of warehousing. After the worldwide economic crisis of 1920/21, stockpiling is called into question and a new era of warehouse sciences begins, the consequences of which are also addressed in the formulation of trade cycle theories.
Geert Lovink und Stefan Heidenreich
Debatte: Web 2.0
In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung wird über die Zukunft der Social Media gestritten. Geert Lovink und Stefan Heidenreich debattieren über den Sinn und Unsinn von Netzkritik angesichts einer veränderten Nutzung und Wahrnehmung des Internets, die sich hinter dem Schlagwort Web 2.0 verbirgt. Lovink sieht die zunehmende Tendenz zur Monopolisierung im Web 2.0 kritisch. Die Nutzer lassen sich von walled gardens begeistern, die Großunternehmen ihnen vorsetzen. Netzkritik solle sich daher nicht in der Frage erschöpfen, wie man Facebook und Twitter am besten nutzen kann, sondern sich mit echten Alternativen im Netz auseinandersetzen. Unabhängig davon, wie nachvollziehbar der Bedarf an praktischen Informationen und die Dominanz ökonomischer Interessen ist, geht es Lovink vor allem um künstlerische Alternativen und eine aktivistische Nutzung der Netze. Es sei an der Zeit, dass Entwickler, Programmierer, Freaks und Nerds aller Nationen sich die dunklen Seiten der ökonomisch-staatlichen Kontrolle des Internets bewusst machen und dagegen aktiv werden. Heidenreich ist dagegen skeptisch. Im Gegensatz zum Projekt der Netzkritik verfolgt er einen strikt medialen Ansatz, der sich gegenüber einer ethischen oder engagierten Beobachtung sozialer Medien kühl gibt. Die Heroisierung von Hackern und Nerds ist aus seiner Sicht von Science Fiction und Nostalgie geprägt, die an der Realität 2.0 vorbeigeht. Die neue Internetgeneration, die mit dem Medium aufgewachsen ist, habe gar kein ausgeprägtes Interesse an Netzkritik, sondern nutze die gegebenen Netzwerkfunktionen auf unterschiedliche Weise.
The current issue of the Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung presents a discussion of social media’s future. Geert Lovink and Stefan Heidenreich debate the sense and non-sense of network-critique in light of the internet’s modifi ed usage and perception, which is commonly labeled Web 2.0. Lovink is critical about the increasing tendency towards monopolization in Web 2.0. Users, he contends, become thrilled by walled gardens, which are presented to them by big companies. Independent of the question whether the need for practical information and the prevalence of economical interests is understandable or not, Lovink is most of all concerned with artistic alternatives and an activist usage of the nets. According to him, it is time for developers, programmers, freaks and nerds of all nations to become conscious of and active against the dark sides of economical and political control over the internet. Heidenreich, on the other hand, is skeptical. In contrast to the project of network-critique, he pursues a rigorously medial approach, which presents itself as unimpressed by ethical or engaged observations of social media. In his view, the heroization of hackers and nerds is informed by Science Fiction and nostalgia, both of which miss Reality 2.0. Heidenreich asserts that the internet’s new generation, which has grown up with the new media, is not particularly interested in network-critique, but uses the given internetservices in various ways.
Urs Stäheli: Infrastrukturen des Kollektiven: alte Medien – neue Kollektive?
Der Begriff des Kollektivs ist, obgleich im Zentrum der Sozialwissenschaften, meist nur im Rahmen einer für abweichendes Verhalten zuständigen Spezialsoziologie als »kollektives Verhalten« konzipiert worden. Der Aufsatz schlägt eine Re-Lektüre dieser Soziologie (insbesondere von Herbert Blumer) vor, um das Zustandekommen von Kollektivität zu denken. Mit Hilfe einer Lektüre von Walt Whitman, der als lyrische und journalistische Inspirationsquelle für die frühe amerikanische Soziologie wichtig war, wird ein Konzept der materialen und medialen Infrastrukturen (insbesondere von Transportmedien wie der Fähre) gewonnen, das gerade auch für die heutige Verschränkung von Kollektivität und Infrastruktur aussagekräftig ist.
Although it is central to the social sciences, the notion of the collective has been elaborated primarily in fi elds of study which are concerned with deviant behavior, and then only in the sense of »collective behavior.« In order to consider the emergence of collectivity, the present paper suggests a re-reading of this sociology (especially of Herbert Blumer). By means of a reading of Walt Whitman, who was important as a lyrical and journalistic source of inspiration to early American sociology, a concept of material and medial infrastructures (particularly transport media such as the ferry) is obtained, which is also signifi cant for the current theoretical interweaving of collectivity and infrastructure.
Henning Schmidgen: Das Konzert der Maschinen. Simondons politisches Programm
Gilbert Simondons Abhandlung Du mode d’existence des objets techniques (1958) operiert im Übergangsraum zwischen Heideggers Technikphilosophie und zeitgenössischer Kybernetik. Darüber hinaus skizziert Simondon ein explizit politisches Programm, das in der Forderung kulminiert, die technischen Objekte durch menschliche Repräsentanten in der Kultur der heutigen Gesellschaft besser zur Geltung zu bringen. Grundlage für dieses Programm ist seine Auffassung des technischen »Dings« als Medium.
Gilbert Simondon’s essay Du mode d’existence des objets techniques (1958 [On the mode of being of technical objects]) operates in the transitional space between Heidegger’s philosophy of technology and contemporary cybernetics. Furthermore, Simondon outlines an explicitly political program that culminates in the demand to emphasize the status of technical objects in the culture of contemporary society by way of human representatives. The basis for this program is his conception of the technical »thing« as a medium.
Marc Rölli: Dinge im Kollektiv. Zur Differenz phänomenologischer und ANTistischer Denkansätze
Husserls Analyse der Wahrnehmung und Heideggers Zeittheorie sind beide in ihrem Theorieaufbau auf die Gegenständlichkeit der Gegenstände – oder auf den Gegenstandsbezug der Erfahrung und seine wesensmäßige Konstitution – fixiert. Hierin spiegelt sich, bei Heidegger explizit, Kantisches Erbe. Diese phänomenologische, transzendentalphilosophische Relevanz des Gegenstands verweist im Kern auf Intentionalität – und damit auf eine objektbezogene Selbstüberschreitungsfigur der Subjektivität. Ganz anders bestimmt Latour den Stellenwert der Dinge im Kollektiv, wenn er ihnen eine Handlungsmacht zuschreibt, die den traditionellen Gegensatz zwischen Handlungssubjekten und Objektbehandlung einklammert. Der folgende Beitrag kreist den kritischen Punkt ein, der in der Theoriebildung zur Verzweigung phänomenologischer und ANTistischer Ansätze führt. Während sich die Phänomenologie im Zuge einer begriffl ichen Rekonstruktion der Erfahrung von Gegenständen konsolidiert, ist die ANT auf die Beschreibung von Handlungsstrukturen ausgerichtet, die sich aus Aktanten aller Art zusammensetzen. Abschließend stellt sich die Frage, ob nicht die kollektivistische Soziologie Latours von dem methodischen Solipsismus der Phänomenologie lernen kann, dass es eine konstruktive Dimension und Machtfülle der deskriptiven Arbeit gibt, die nicht einfach den Akteuren überhaupt, sondern vor allem der Analytikerin überlassen ist?
Husserl’s analysis of perception and Heidegger’s theory of time are both fi xated on the objectivity of objects - or the objectrelation of experience and its essential constitution. This reflects - and in the case of Heidegger quite explicitly - Kantian heritage. This phenomenological, transcendental relevance of the object essentially refers to intentionality - and thus an object-related fi gure of self-transcending subjectivity. Quite diff erently, Latour determines the status of things in the collective, ascribing to them an agency that brackets the traditional opposition between acting subjects and passive objects. The contribution encircles precisely that critical point which leads to the separation of phenomenological and ANTistical approaches. While phenomenology grounds itself by reconstructing the experience of objects, ANT focuses on the description of the structures of action, which are composed of actants of all kinds. Finally, the question arises whether Latour’s collectivist sociology can learn from phenomenology’s methodological solipsism that there is a constructive dimension and plenitude of power in the work of description that is not just left to actors in general, but above all to the analyst herself?
Wolfram Nitsch: Mobile Mediatope. Verkehrsmittel als Medien und Milieus in der französischen Literatur der Gegenwart
Verkehrsmittel lassen sich als Medien betrachten, die auf die Wahrnehmung des Raums einwirken, aber auch als Milieus, die bestimmte Formen sozialer Interaktion erzeugen. Um beide Perspektiven aufeinander zu beziehen, umreißt der Beitrag eine Topologie der Fahrzeuge anhand von Stadttexten aus der französischen Literatur der Gegenwart. Aus deren eingehender Darstellung bestimmter Verkehrsmittel geht hervor, dass literarische Texte nicht allein fahrzeugspezifi sche Weisen der Raumerfahrung entziff ern, sondern darüber hinaus auch in Auseinandersetzung mit einer überkommenen Transportkultur originelle Praktiken des Fahrzeuggebrauchs ersinnen.
On the one hand, means of transport can be considered as media which shape the perception of space; on the other, they can be considered as milieus which produce certain forms of social interaction. In order to relate both perspectives to each other, the present contribution outlines a topology of vehicles, drawing upon contemporary French literature set in cities. Their detailed representation of certain means of transport shows that literary texts not only decipher modes of spatial perception that are specifi c to certain vehicles, but also devise new ways of using vehicles through their involvement with an outdated culture of transport.
Barbara Zahnen: Kollektiv Erdbewohner. Das geographische Wir
Der Text widmet sich dem Umstand, dass wir alle Bewohner dieser Erde sind. Er lässt sich dabei von der Frage leiten, ob bzw. inwiefern es wissenschaftliche Texte geben könnte, die die uns alle angehende »Erde« so zur Darstellung kommen lassen, dass wir dadurch berührt und verändert werden können. In diesem Zuge wird der Wert bzw. die Notwendigkeit einer Logik des Wohnplatzes
– im Gegensatz zu einer solchen des Schauplatzes – vorgestellt sowie einer entsprechenden Sprache. Als Material zur Entfaltung des Gedankengangs dienen Erfahrungsberichte von Menschen, die die Erde vorübergehend verlassen haben: Astronauten.
The text focuses on the fact that we all inhabit this earth. It is guided by the question whether and to what extent there might be scholarly texts, which depict the »earth« – which concerns us all – in such a way that it touches and changes us. In this context, the value or the need for a logic of living space – in contrast to a logic of spaces of display – and a corresponding language is presented. Reports by people who have temporarily left the earth – astronauts – serve as material for the development of this line of thought.
Isabell Otto: Kollektiv-Visionen. Zu den Möglichkeiten der kollektiven Intelligenz
Eine kollektive Intelligenz kann dann gelingen, wenn sich ihre einzelnen Bestandteile in Kollektiv-Visionen auf sie beziehen. Diese Vorstellung prägt Utopien und Beschreibungen, in denen Medien als Hilfsmittel verteilter Intelligenz vorkommen. In einer Betrachtung der Medialität dieser Medien zeigt sich hingegen die Flüchtigkeit und Instabilität einer Formierung von kollektiver Intelligenz. Kollektiv-Visionen lassen sich einerseits als Strategien der Stabilisierung beobachten, andererseits als Darstellungen, in denen sich die Möglichkeiten kollektiver Intelligenz abzeichnen.
Collective intelligence can be successful if each of its components relates to it in collective visions. This idea characterizes utopia and descriptions, in which media appear as means of distributed intelligence. A consideration of the mediality of these media, however, highlights the volatility and instability of a formation of collective intelligence. Collective visions can be seen both as a strategy of stabilization and as representations from which the possibilities of collective intelligence emerge.