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Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Band 56. Heft 1


Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft (ZÄK) 56/1. 2011. 161 Seiten.
2366-0740. eJournal (PDF)
DOI: https://doi.org/10.28937/ZAEK-56-1
EUR 68,00


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ABSTRACTS

Daniela Bohde: Physiognomische Denkfiguren in Kunstgeschichte und visuellen Wissenschaften – Lavater und die Folgen

Dass die Physiognomik eine große Bedeutung für die Porträtmalerei hatte, ist bekannt. Weniger bekannt ist, dass sie auch die Methodik der Kunstgeschichte und anderer visueller Wissenschaften prägte. Vice versa haben kunsthistorische Deutungsverfahren die Physiognomik beeinflusst – sei es die Physiognomik Lavaters oder jüngere Varianten wie die Charakterologie oder die Rassenkunde. Die Interdependenz von physiognomischen und kunsthistorischen Methoden zeigt sich besonders deutlich am Stilbegriff. Winckelmann entwickelte seine Vorstellung vom Stil als Ausdruck des Geistes eines Volkes im Rückgriff auf die Physiognomik. Den kunsthistorischen Stilbegriff adaptierten wiederum Lavater und spätere Physiognomen. Diese Verflechtungen kennzeichnen die Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts, vor allem aber der 1920er, 30er und 40er Jahre, als es einerseits ein allgemeines Interesse an der Physiognomik als einer der Sprache überlegenen visuellen Hermeneutik gab und als andererseits rassenphysiognomische Denkmuster in der Kunstgeschichte rezipiert wurden. Mit sehr unterschiedlichen Zielen versuchten Kunsthistoriker wie Wilhelm Pinder, Wilhelm Fraenger oder Hans Sedlmayr eine physiognomische Kunstgeschichte zu begründen. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden die Bezüge wieder lockerer, doch scheinen sie sich mit den neueren bild- wissenschaftlichen Ansätzen wieder zu intensivieren. Die Physiognomik erweist sich so als ein problematischer Vorläufer der Bildwissenschaft.

The importance of physiognomics for portrait painting is well known. It is less known, how- ever, that this mode of inquiry informed the methodology of art history and other visual sci- ences. The methodology of art history, in turn, affected physiognomics, as can be seen in the studies of Lavater and later developments such as characterology and racial science. The in- terdependence of physiognomics and art history becomes most obvious in the concept of style as it was developed in the late 18th century by Winckelmann. Lavater and later physiognomists drew on his idea that style expresses the spirit of a people, an idea that had itself drawn upon physiognomic concepts. The interference of the two disciplines shaped art history in the 19th and 20th centuries. In the 1920s, 30s and 40s, things developed basically in two directions: physiognomics was reevaluated as a form of visual hermeneutics superior to language, and racial physiognomics was integrated into art history. In this period, art historians such as Wilhelm Pinder, Wilhelm Fraenger and Hans Sedlmayr explicitly developed physiognomic methodologies. After World War II the ties between art history and physiognomics loosened. In our time they seem to be tightening again as physiognomics reveals itself to be a problematic forerunner of visual studies.

Sebastian Egenhofer: Für eine Topik der Bildkritik

Ausgehend von Kants Bestimmung von Kritik als »Grenzziehung« wird die bewusstseinsimmanente Repräsentation des Seienden oder die Welt als Abblendung ihres noumenalen Grundes begriffen. Materiell gebundene Bilder gewinnen für die Explikation der Struktur dieser Immanenz eine besondere Funktion. Als Objekte innerhalb der erscheinenden Welt verdoppeln sie deren Phänomenalität in der Dimension des ikonischen Scheins, der sich der (partiellen) Negation des materiellen Bildträgers verdankt. Aufgrund dieser Spaltung in Phänomenalität und Materialität können Bilder eine Kritik des natürlichen, sei es individuellen oder kollektiven Bewusstseins initiieren. Bildkritik kann so als Scharnier zwischen transzendentaler Bewusstseinskritik und Ideologie- oder Spektakelkritik fungieren.

Starting from Kant’s conception of critique as »Grenzziehung,« the immanent representation of being, or, the conscious world, is understood as a screening off of its noumenal ground. Materially bound images gain a particular function in the explication of the structure of this immanence. As objects within the phenomenal world they duplicate the world’s phenomenal- ity in the dimension of iconic semblance by (partially) negating their material support. This cleavage between the image’s phenomenality and its materiality makes images into possible catalysts of a critique of natural consciousness, be it individual or collective. Thus, »image critique« can serve as a hinge between a transcendental critique of consciousness and a critique of ideology or spectacle.

Daniel Feige: Zum Verhältnis von Kunsttheorie und Ästhetik

In der deutschen Ästhetik ist die Auskunft einschlägig, dass Fragen der Kunsttheorie einen Teilbereich der allgemeinen Ästhetik bilden, die zumeist anhand des Leitbegriffs ästhetischer Erfahrung umrissen wird. Die These des Artikels ist, dass die philosophische Kunsttheorie keineswegs in diesem Sinne als Teilbereich einer allgemeinen Ästhetik verstanden werden kann. Im ersten Teil buchstabiere ich vor allem ausgehend von Arthur C. Dantos Kunsttheorie die These aus, dass es viele Arten von Kunstwerken gibt, die keinerlei sinnliche Eigenschaften als konstitutive Eigenschaften aufweisen. Im zweiten Teil skizziere ich eine Theorie der sinnlichen Dimension derjenigen Kunstwerke, die eine sinnliche Dimension als konstitutiv aufweisen, und argumentiere, dass diese Dimension in Kunstwerken eine spezifische Strukturiertheit gewinnt, die derartige Kunstwerke kategorial von anderen in der Ästhetik diskutierten Objekten und Ereignissen unterscheidet.

In german aesthetics, aethetic experience is the most prominent concept to emphasize sensual properties of objects and events. Thus, artistic objects can be understood as a special case of aesthetic experience. In this paper I argue that a theory of art should be separated from a general theory of aesthetics. In a first part, referring to Arthur C. Danto’s arguments, I claim that there are many artworks for which sensual properties are not constitutive. In a second step, I try to show that even sensual artworks cannot be understood sufficiently with regard to the concept of aesthetic experience. They have a specific structure that seperates them categorically from mere aesthetic objects and events.

Bernhard Greiner: »Dieses ist vor dem Bild unmöglich«: Die romantische Idee des Kunst-Museums

Im Laufe des 18. Jahrhunderts ändert sich in Deutschland die Zugänglichkeit von Kunst grundlegend: Fürstliche Sammlungen werden dem allgemeinen Publikum geöffnet, nur der Kunst gewidmete Museen werden eingerichtet. Diese Entwicklung zeigt eine bemerkenswerte Parallele zur gleichzeitigen Ausbildung einer philosophischen Ästhetik und deren Konzeption einer Kunstautonomie, der Kant dann eine umfassende theoretische Begründung gibt, derart, dass die Momente des Schönen, die Kant in der Kritik der Urteilskraft herausarbeitet, als konstitutive Merkmale der Kunstmuseen wiedergefunden werden können. Die romantische Bewegung bekräftigt diese Entwicklung in ambivalenter Weise. Die allgemeine Zugänglichkeit von Kunst kommt ihrem Auf heben von Grenzen entgegen, nötigt aber auch, neu zwischen dem Sein des Kunstwerks und dem des Betrachters zu unterscheiden, was gegenläufig zum Anlass einer ›Romantisierung‹ des Kunstwerks wie des Betrachters wird. Das wird an August Wilhelm Schlegels Kunstgespräch Die Gemählde herausgearbeitet, weiter an Friedrich Schlegels Nachricht von den Gemählden in Paris und dem Echo Kleists hierauf in seiner Cäcilienerzählung sowie am Essay über Caspar David Friedrichs Bild Mönch am Meer, der von Clemens Brentano und Achim von Arnim verfasst und von Kleist grundlegend umgearbeitet worden ist.

The accessibility of art in Germany underwent a fundamental change over the course of the 18th century. Aristocratic collectors opened their doors to the general public, and new museums were dedicated exclusively to art. This development parallels the concurrent development of aesthetics in philosophy and the conception of the autonomy of art. Its theoretical foundation was provided by Kant in his third critique with such completeness that the standards of beauty he worked out emerge as constitutive elements of the art museum. The Romantic movement reinforced the trend in what proved to be an ambivalent way. The general accessibility of art was well suited to its transgression of boundaries, but it necessitated a new, less contingent mode of demarcation between the work of art and the observer. That became an occasion for Romanticization« of both the artwork and its audience, demonstrated here by August Wilhelm Schlegel’s conversation on art Die Gemählde. It is further elucidated by Friedrich Schlegel’s Nachricht von den Gemählden in Paris and its echo in two texts published by Kleist: The novella Die Heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik and the essay on Caspar David Friedrich’s painting Mönch am Meer that was drafted by Clemens Brentano and Achim von Arnim and radically modified by Kleist.

Andreas Kablitz: Was ist poetische Sprache?

Der Aufsatz nimmt seinen Ausgang von einer genauen Auseinandersetzung mit Jakobsons Beschreibung der »poetischen Funktion.« Er kommt dabei zu der Schlussfolgerung, dass sich das von Jakobson bestimmte distinktive Merkmal poetischer Sprache, die Bildung paradigmatischer Ähnlichkeiten, anders als von ihm behauptet, nicht als eine Projektion der paradigmatischen auf die syntagmatische Achse der Sprache beschreiben lässt. Der semantische Effekt dieser Ähnlichkeiten besteht ebenso wenig in einer ausschließlichen Produktion von Ambivalenz, vielmehr stellen sie vielfach Kohärenz her, wie vor allem anhand von Beispielen für Metapher, Metonymie und Allegorie gezeigt wird. In einem zweiten Schritt wendet sich der Aufsatz einer detaillierten Interpretation des 8. Sonetts aus Petrarcas Canzoniere zu, die seinen intertextuellen Bezügen zu weiteren Sonetten aus diesem Zyklus, aber auch zur scholastischen Theologie und platonischen Philosophie nachgeht. Dabei wird die These der Kohärenzbildung weiter entwickelt: Gerade die Stellen, die zunächst unverständlich scheinen, lassen sich als implizite Propositionen und zu- gleich als kohärenzstiftende Aussagen ausweisen. In einem abschließenden Teil wird daher implizite Kohärenzbildung als das spezifische Merkmal poetischer Sprache des näheren charakterisiert sowie die daraus folgende Notwendigkeit der Hermeneutik des literarischen Textes begründet.

The essay departs from a detailed discussion of Jakobson’s description of the »poetic function.« It comes to the conclusion that the distinctive feature of poetic language, defined by Jakobson as the production of paradigmatic similarity, cannot be understood as a result of the projection of the paradigmatic axis of language onto its syntagmatic axis. Furthermore, the semantic effect of these similarities does not consist exclusively in a production of ambivalence; frequently, they produce coherence, as can be shown with reference to examples of metaphors, metonymies and allegories. In a second step, the essay turns to a detailed interpretation of the 8th sonnet of Petrarch’s Canzoniere, which examines its intertextual relations to other son- nets of this cycle as well as those to scholastic theology and Platonic philosophy. This interpretation further develops the idea that poetic language produces coherence; for, precisely those lines that at first seem incomprehensible can be understood as implicit propositions and coherencecreating statements. In its concluding section, the paper characterizes the implicit production of coherence as the specific feature of poetic language and discusses the necessity of a hermeneutics of literary texts.