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Wahrnehmungshygiene und Baumpuderrausch. Kleine amazonische Sinneslehre (Lévi-Strauss, Restany, Viveiros de Castro, Kohn, Oloixarac)



Der amazonische Regenwald gilt traditionell als Heimat von Sinnestäuschungen. Als das radikal Fremde hält er die selten gewordene Erfahrung bereit, sich als Mensch angesichts einer Fülle von ‚Umwelt‘ in der Unterzahl zu fühlen. Der Beitrag untersucht vor diesem Hintergrund zwei Paradigmen amazonischer Wahrnehmungslehren. Dient er im 20. Jahrhundert als Erfahrungsort für einen letzten Rest „integraler Natürlichkeit“ (Pierre Restany) und bietet eine im Verschwinden begriffene Heimat für den „chronisch heimatlosen“ Europäer (Lévi-Strauss, Frans Krajcberg), scheint er dagegen im 21. Jahrhundert die dringend benötigten Wahrnehmungsmodi für die Verstrickungen zwischen Mensch, Umwelt, Tier, Pflanze und Technik im Anthropozän zu liefern (Eduardo Kohn, Eduardo Viveiros de Castro). Anhand des Romans Constelaciones oscuras (2015; dt. Kryptozän, 2016) der argentinischen Autorin Pola Oloixarac lassen sich die verschiedenen Funktionalisierungen und Imaginationen des Amazonaswaldes als Wahrnehmungsschule nachvollziehen. Zugleich ist der literarische Text mehr als nur fiktionale Verhandlung divergenter Amazonasreferenzen: Er greift indigene Perspektivverschiebungen auf, verkehrt Positiv- in Negativformen und denkt zu Ende, was aktuelle Amazonasethnographien mit Begriffen von Multinaturalismus, Schamanismus und Perspektivismus entwerfen. Da er nicht davor zurückschreckt, die letzte Konsequenz einer „anthropology beyond the human“ zu ziehen, den Menschen als fremdgesteuerten Wirt einer symbiotischen Verbindung zu betrachten, lässt sich an ihm eine Wahrnehmungslehre für die Verstrickungen des Anthropozäns ableiten.