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ZMK Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 5/2/2014: Synchronisation


Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung (ZMK) 5/2/2014. 2014. 179 Seiten.
2366-0767. eJournal (PDF)
DOI: 10.28937/ZMK-5-2
EUR 0,00
Open Access unter CC BY-SA-Lizenz.


Abstracts

Philippe Descola: Von Ganzheiten zu Kollektiven. Wege zu einer Ontologie sozialer Formen
Im Anschluss an die Methoden der strukturalen Anthropologie und an Bruno Latour diskutiert der Beitrag Gesellschaften nicht als Ganzheiten Durkheimscher Prägung, sondern als Kollektive. Entlang der basalen Dualität zwischen materiellen Prozessen (Körperlichkeit) und mentalen Zuständen (Innerlichkeit) werden dabei vier Haupt-Ontologien sozialer Formen vorgestellt, in denen die beiden Achsen jeweils spezifische Kontinuitäten und Differenzen zwischen Menschen und Nichtmenschen eines Kollektivtyps regeln: Animismus, Totemismus, Naturalismus und Analogismus.
Following the methods of structural anthropology and Bruno Latour, the contribution discusses societies not as wholes in Durkheim’s sense but as collectives. Along the fundamental duality between material processes (corporeality) and mental states (inwardness) four main ontologies of social forms are presented, in which the two axes regulate specific continuities and differences between humans and non-humans of a collective: animism, totemism, naturalism and analogism.

Petra Löffler: Im (Raum) sein: streuen – erstrecken – zerstreuen. Zu einer Medienökologie des Relationsraums
Relationale Räume sind veränderliche Gefüge, die eine Ordnung des Koexistierenden etablieren. In ihnen sind Kräfte der Streuung wirksam, die Lagebeziehungen und Nachbarschaften ausbilden. Der Beitrag entwirft ausgehend vom philosophischen Konzept des Relationsraums eine Medienökologie der Koexistenz, des gleichzeitigen Nebeneinanders des Zerstreuten, und zielt auf eine Ethik und Ästhetik der Verteilung. Ausgehend von Martin Heideggers fundamentalontologischer Setzung einer »ursprünglichen Streuung des Daseins« und deren poststrukturalistischen und philosophischen Kritik werden Konzepte variabler Relationsräume und Regime der Zerstreuung diskutiert.
Relational spaces are variable patterns which establish an order of the coexisting. In them, forces of dispersion come into effect that form positional relationships and neighborhoods. In line with the philosophical concept of relational space, the paper sketches a media ecology of coexistence, of the simultaneous juxtaposition of the scattered, and envisages an ethics and aesthetics of distribution. Starting with Martin Heidegger’s ontological postulate of an »original dispersion of existence« and its post-structuralist and philosophical critique, various concepts of relational spaces and regimes of dispersion are discussed.

Daniel Gethmann: Anwesend/Abwesend. Formen der Präsenz in der Mikrophonie
Die mediale Ausprägung neuartiger stimmlich-akustischer Präsenzformen stellt die Radiotheorie von Karl Würzburger im Jahre 1932 unter den Begriff der Mikrophonie. Im Durchgang durch das Mikrophon erfahren hier übertragene Medienstimmen eine ubiquitäre Verbreitung, die in einem Spiel mit An- und Abwesenheitseffekten von Körpern und Stimmen die Entwicklung spezifisch radiophoner Sprechformen fördert.
Karl Würzburger’s radio theory labels novel vocal-acoustic forms of presence with the concept of »Mikrophonie« (microphonics). Passing through the microphone, transmitted voices undergo a ubiquitous distribution, which in a play with effects of presence and absence promotes the development of specific forms of radiophonic voices.

Debatte: Anthropozän
Christian Schwägerl / Reinhold Leinfelder: Die menschgemachte Erde
vs. Niels Werber: Anthropozän. Eine Megamakroepoche und die Selbstbeschreibung der Gesellschaft

Die Hypothese eines neuen Erdzeitalters, des »Anthropozän«, wird seit ihrer Postulierung durch den Chemiker und Nobelpreisträger Paul Crutzen im Jahr 2000 intensiv diskutiert. Der Beginn des Anthropozän wird zumeist um 1800 datiert und in einen Zusammenhang mit der Industrialisierung gestellt. Seither, so die These, ist die Menschheit zu einer quasi geologischen Kraft und sind menschliche Infrastrukturen zum wichtigsten Einflussfaktor auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden. Christian Schwägerl und Reinhold Leinfelder führen in ihrem Beitrag Argumente und Beispiele für die langfristigen Veränderungen und für die »Reorganisation des gesamten Erdsystems« an, welche die These vom Anthropozän und der »menschgemachten« Erde stützen. In ihrem Beitrag widersprechen sie dem vorschnellen Eindruck, es handle sich bei der Idee einer neuen geologischen Erdepoche nur um einen neuen Sammelbegriff für all das, was als Umweltproblem gilt. Vielmehr betonen die Autoren auch das Potential des Menschen und seiner Technologien zur positiven Gestaltung seines Lebensraums und zur Transformation der Erde. Sie verstehen das Anthropozän nicht nur als rein physische Zustandsbeschreibung, sondern auch als gesellschaftliche Herausforderung und als Forschungsauftrag. Niels Werber setzt in seinem Beitrag an der Frage der notorischen Epochenbildung um 1800 an und kritisiert, dass der Anthropozän-Diskurs sich allein auf die vermeintliche Evidenz naturwissenschaftlicher, vor allem geologischer Daten und Zahlen verlassen würde und ausgerechnet für die Plausibilisierung des Zeitalters des Menschen Kenntnisse über den Menschen, seine Sozialordnung und Kultur offenbar nicht nötig seien. Stattdessen fordert Werber im Anschluss an Niklas Luhmann dazu auf, die Anthropozän-Hypothese als einen Beitrag zur »Selbstbeschreibung der Gesellschaft«, das heißt zur Beschreibung der Einfügung des Menschen und seiner Gesellschaft in die Welt zu verstehen.
The hypothesis of a new geological era, the »Anthropocene«, is discussed intensively since its presentation by the chemist and Nobel Prize winner Paul Crutzen in 2000. The beginning of the Anthropocene is usually dated to 1800 and put into the context of the industrialization. Since then, according to Crutzen, mankind has become a quasi-geological force and human infrastructures have developed into a primary influence on the biological, geological and atmospheric processes on Earth. In their contribution, Christian Schwägerl and Reinhold Leinfelder present examples of the long-term changes and arguments for the »reorganization of the entire Earth system«, supporting the thesis of the Anthropocene and the »man-made« Earth. In their article they contradict the premature impression that the Anthropocene is nothing but a new umbrella term for everything that is considered an environmental problem. Rather, the authors emphasize the potential of man and his technologies for the positive design of his habitat and the transformation of the earth. They understand the Anthropocene not only as a description of a purely physical state, but also as a social and scientific challenge. Niels Werber puts in his contribution the notorious epoch threshold 1800 in question. Furthermore, he criticizes that the discourse of the Anthropocene relies solely on the supposed evidence of science, especially of geological data and figures, and thus neglects in its effort to describe a »geological age of mankind« precisely the emerging knowledge of man, social order and culture. Instead, Werber understands the »Anthropocene« as a contribution to the »self-description of society,« i.e. to a possible integration of mankind and society into the world.

Andreas Ziemann: Phänomene, Probleme und Aktanten der Gleichzeitigkeit – eine sozial- und medientheoretische Skizze
Der Aufsatz rekonstruiert im ersten Teil sozialphänomenologische Beschreibungen der leibfundierten Erfahrung von Gleichzeitigkeit. Abstrakte Zeitvorstellungen und Zeitkategorien sind dem nachgeordnet und werden mittels Sprache objektiviert. Im zweiten Teil wird mit Bezug auf die soziologische Systemtheorie die Perspektive umgedreht und diskutiert, ob Gleichzeitigkeit nicht vielmehr ein nachrangiger Modus sozialer Beziehungen sowie des inneren Bewusstseinsstroms ist und grundlegend auf Welterfahrung und Techniken der Uhrenkoordination respektive Isochronie beruht. Abschließend wird untersucht, wie moderne elektronische Massenmedien, insbesondere das (Live-)Fernsehen, weltweite Synchronisation herstellen und diese eigenständig manipulieren.
In its first part, the article reconstructs descriptions of corporal perception of simultaneity. Abstract concepts and categories of time are secondary to these perceptions and objectified by means of language. In a second part, with reference to system theory, the perspective is turned around, so that simultaneity is discussed as a secondary mode of social relations and the inner stream of consciousness; in this view, simultaneity is based on world experience and techniques of synchronization. In conclusion, the paper analyses how modern electronic mass media and especially (live) television produces and manipulates autonomously worldwide synchronization.

Bernhard Siegert: Längengrade und Gleichzeitigkeit in der Philosophie, der Physik und Imperien
Die Einführung von Längengraden auf den Weltmeeren wurde vom 16. bis ins 18. Jahrhundert als die größte wissenschaftliche Herausforderung angesehen. Der Beitrag skizziert ihren Einfluss auf die Erschaffung des Britischen Imperiums, die Physik, und die frühe Philosophie Martin Heideggers. Vor dem Hintergrund dieser Geschichte wird eine historische Ontologie der Uhr entwickelt. Während die Uhr im Mittelalter eine Maschine war, wurde sie in der frühen Moderne zum Instrument und im 19. und 20. Jahrhundert zum Medium. Als Medium des Daseins ist die Uhr nicht nur ein ontisches Zeitmessgerät, sondern auch ein ontologisches Ding, das dem Dasein sein eigenes technisches Wesen zugänglich macht.
From the 16th to the 18th century, the introduction of longitude on the high seas was considered the greatest scientific challenge. The paper outlines their impact on the creation of the British Empire, physics, and the early philosophy of Martin Heidegger. Against the background of this story, a historical ontology of the clock is developed. While the clock was a machine in the Middle Ages, it became an instrument in early modernity and a medium in the 19th and 20th century. As a medium of existence, the clock is not only an ontic device to measure the time, but also an ontological thing that provides access to the technical nature of existence.

Anna Echterhölter: Jahresrechnung und Organisation. Von der Verfassungsphantastik zur technischen Chronologie bei Karl Dietrich Hüllmann
Die Chronologie bildet sich Anfang des 19. Jahrhunderts als historische Subdisziplin heraus. Am Beispiel eines Entwurfs von Karl Dietrich Hüllmann, einem vergessenen Vorläufer der Volkswirtschaftslehre, werden kulturelle und gesellschaftliche Synchronisationseffekte verfolgt. Abweichend von den Lehrmeinungen seiner Zeit, begründet Hüllmann überraschenderweise den Ursprung des Staats mit der Zeitrechnung. Er gewinnt mit der technisch erzeugten Chronologie ein Argument, das er in Konkurrenz zu naturhistorisch fundierten Vertragstheorien treten lässt.
At the beginning of the 19th century, chronology is emerging as a historical subdiscipline. Using the example of a draft by Karl Dietrich Hüllmann, a forgotten precursor of economics, the paper pursues effects of cultural and social synchronization. In contrast to the doctrines of his time, Hüllmann surprisingly justifies the origin of the state with reference to the calculation of time: thus, technically produced chronology serves him as an argument that rivals theories of contract based on natural history.

Jan Philip Müller: Sync Sound/Sink Sound. Audiovision und Synchronisation in Michael Snows »Rameau’s Nephew by Diderot (Thanx to Dennis Young) by Wilma Schoen«
Michael Snows »talking picture« »Rameau’s Nephew […]« (1974) entwickelt eine – laufend aus den Fugen geratende – Taxonomie audiovisueller Verhältnisse des Tonfilms. Der Beitrag durchstreift diesen Experimentalfilm, indem er drei Motive – Übersetzung, Fläche, Wasser – nachverfolgt, an denen Tonfilm erprobt, reflektiert und erfahrbar wird. Dabei kristallisiert sich in Umschlagsmomenten zwischen technischer Bild-Ton-Synchronisation und »Synchresis« (Michel Chion) – irreduzibel audiovisuelle Synthese der Wahrnehmung – ein kritischer Punkt des Mediums Tonfilm heraus. Synchronisation ist von solchen Momenten aus als Prozess zu verstehen, in dem Potenziale von Homogenisierung und Heterogenisierung verteilt und aufeinander bezogen werden.
Micheal Snow’s talking picture »Rameau’s Nephew […]« (1974) develops an ever unstable taxonomy of audio-visual relations in the talking movie. The contribution investigates this experimental film by following three motives – translation, surface, water – with which the talking movie reflects itself. Thus, moments of transition between mere technical lip-sync and »synchresis« (irreducible audio-visual synthesis of perception, a term coined by Michel Chion) – prove to be a critical point of the talking movie. In this perspective, synchronization is to be understood as a process which distributes and correlates potentials of homogenization and heterogenization.

Elena Esposito: Impossible synchronization. Temporal coordination in the risk society
Unsere Gesellschaft wird oft als eine Gesellschaft der Ungleichzeitigkeit verstanden und diskutiert – eine Problematik, die zweifellos mit einer weitverbreiteten Verstörung in der heutigen Gesellschaft korrespondiert. Sowohl auf einer persönlichen Ebene als auch in kommunikativen Kontexten hat man oft den Eindruck eines Mit- und Gegeneinanders verschiedener Rhythmen, Zeithorizonte, Dauern und Enden, deren Ergebnis gewöhnlich eine Art Druck und ein Gefühl der Unzulänglichkeit sind. Es scheint mir aber, dass die Schwierigkeiten, denen wir uns zu stellen haben, nicht so sehr von unserer Verbundenheit mit einer Kultur (oder einer Vermischung von Kulturen) der Ungleichzeitigkeit abhängen: Solche Kulturen haben bereits existiert, wir können sie beschreiben und ihre Zeitverhältnisse rekonstruieren, und doch haben sie nicht die Desorientierung erfahren, die uns heute quält. Im Gegenteil: Die heutigen Schwierigkeiten entspringen einer Kultur der Gleichzeitigkeit, die Probleme der Synchronisierung und komplexe Zeitverhältnisse mit sich bringt, mit denen wir immer noch nicht adäquat umgehen können.
Our society is often understood and discussed as a society of non-contemporaneity (Ungleichzeitigkeit)—an issue that undoubtedly corresponds to a widespread and disturbing feeling in today’s society. Both at personal level and in communicative contexts one often has the impression of an interlacement and a contrast among different rhythms, temporal horizons, durations and terms, and the result is usually a sort of pressure and a sense of inadequacy. It seems to me, however, that the difficulties we have to face don’t depend so much on the fact that we belong to a culture (or even to the intersection among various cultures) of not-contemporaneity: such cultures have existed, we can describe them and we can reconstruct their relationship with time, but they didn’t have the problems of disorientation that seem to torment us today. On the contrary: we have them because our culture is rather a culture of contemporaneity, and this produces problems of synchronisation and a complexity of temporal relations we still cannot adequately deal with.