Abstracts
Harun Farocki: Über das Dokumentarische
Die hier veröffentlichten Ausführungen »Über das Dokumentarische« wollen nicht begrifflich erläutern, was das Dokumentarische ist und was es vom Fiktiven unterscheidet, sondern was dem Film selbst als dokumentarisch gilt und wie das Dokumentarische filmisch hergestellt wird. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Spielfilm und Dokumentarfilm ist dabei der Unterschied zwischen einer antizipierenden und einer verfolgenden Kamera.
The remarks »On the Documentary« that are published here are not supposed to explain conceptually what exactly the documentary is and by which means it can be distinguished from the fictive, but what the film itself counts to be documentary and how the documentary is produced by film. An essential difference between fictional and documentary film is the difference between an anticipating and a pursuing camera.
Volker Pantenburg: Bilder nehmen. Harun Farocki: »Über das Dokumentarische«
»Über das Dokumentarische« muss als die letzte Publikation des Regisseurs, Videokünstlers und Filmdenkers Harun Farocki gelten. Die Anmerkungen in »Bilder nehmen« verstehen sich als Kommentar dieses kurz vor Fertigstellung unterbrochenen Beitrags. Neben einer Rekonstruktion der Umstände und Hintergründe von Farockis Text werden einige der Besonderheiten seiner Perspektive auf den »dokumentarischen Effekt« herausgearbeitet, der sich besonders plausibel an spezifischen Kameragesten erläutern lässt.
»On the Documentary« must be regarded as the last publication of the director, video artist and film thinker Harun Farocki. The observations contained in »Taking Pictures« see themselves as a commentary to this essay, which Farocki had to leave uncompleted. In addition to a reconstruction of the circumstances and background of Farocki’s text, some of the characteristics of his perspective on the »documentary effect«, which can be explained most clearly with reference to specific camera gestures, are considered.
Heike Delitz: Genäht oder gegraben, ephemer oder in die Erde versenkt. Divergente architektonische Modi der kollektiven Existenz
Was für sozietale Effekte hat eine Zeltarchitektur, um welchen Modus der kollektiven Existenz handelt es sich bei nomadischen Gesellschaften wie den Tuareg? Und mit welcher imaginär instituierten Gesellschaft geht eine Architektur einher, die eine Nicht-Gestalt des Kollektivs erzeugt – wie die eingegrabenen Häuser im chinesischen Löss? In solchen Analysen zeigt sich die soziale Positivität von Architektur; und ex negativo auch, welches soziale Leben mit einer fixierten, infrastrukturierten Bauweise einhergeht.
What social effects does a tent architecture have, in which mode of collective existence do nomadic societies such as the Tuareg live? And what kind of fictionally instituted society is accompanied by an architecture that produces a non-gestalt of the collective – such as the buried houses in the Chinese Loess? Such analyses show the social positivity of architecture; and they show ex negativo, which kind of social life goes along with immobile constructions.
Wolfram Pichler: Schwarze Lichter? Bildlogische Operationen bei Michelangelo und Matisse
In bestimmten Artefakten, die als ›Bilder‹ klassifizierbar sind, wurden so verdächtige Phänomene wie ›schwarze Glanzlichter‹ gesichtet, und es soll Gemälde geben, in denen Schwarz die Rolle einer ›Farbe des Lichts‹ übernimmt. Wer sich überzeugt hat, dass solche Erscheinungen tatsächlich nachweisbar sind, und herausbekommen möchte, durch welche Operationen sie hervorgebracht werden, sieht sich auf grundlegende bildtheoretische Unterscheidungen wie die Differenz zwischen Bildvehikel und Bildobjekt verwiesen.
In certain artifacts, which can be classified as images, suspicious phenomena such as ›black highlights‹ have been spotted, and paintings are said to exist, in which black plays the role of a ›color of light‹. Who has persuaded himself that such phenomena are in fact detectable, and would like to find out by which operations they are produced, is referred to basic distinctions of image theory, such as the difference between ›image vehicle‹ and ›image object‹.
Tim Ingold: Bauen Knoten Verbinden
Der Beitrag greift Gottfried Sempers Perspektive auf, dass das Bauen wie das Textile ihren Ursprung in Praktiken des Knotens haben. Ein Vergleich des Knotens mit den vorherrschenden Metaphern des Bausteins, der Kette und des Behälters zeigt, wie sich das Knoten in die Bereiche des Materials, der Bewegung, der Wahrnehmung und der menschlichen Beziehungen einschreibt. Doch der Knoten verbindet Dinge ›miteinander‹, statt sie ›zusammenzufügen‹, eher durch Sympathie- als durch Gelenkverbindungen. Das führt zu einem Vergleich der tektonischen und stereotomischen Aspekte des Bauens, insbesondere der Mauer. Ist die Mauer auf dem Grund errichtet, wie der Wolkenkratzer, oder ist sie, wie der Berg, eine Falte im Grund selbst? Geht man vom Knoten aus, gelangt man zu letzterem Schluss.
The paper follows Gottfried Semper’s thesis that building – just like the textile – originates in practices of the knot. A comparison of the knot with dominant metaphors of the construction stone, the chain and the container shows how knotting is inscribed in the fields of material, movement, perception and human relations. But the knot connects things with each other, instead of simply adding them; it is a connection by sympathy rather than by joints. That leads to a comparison of tectonic and stereotomic aspects of building, especially of the wall. Is the wall constructed on the ground, like the skyscraper, or is it a fold in the ground itself, like the mountain? If one pursues the idea of the knot, one arrives at the latter conclusion.
T'ai Smith: Textile Diagrams. Florian Pumhösl’s Abstraction as Method
For Viennese artist Florian Pumhösl »abstraction is a method«, not a category. Or rather, if abstraction is the defining category of modernism, the objective is to reproduce modernism’s problems and limits and exploit relationships among its parts. Considering what Pumhösl calls the »textile complex« of modernism, this essay examines the artist’s work in parallel with Charles Sanders Peirce’s diagram concept and Gottfried Semper’s use of textile diagrams throughout Style in the Technical and Tectonic Arts.
»Abstraktion« ist für den Wiener Künstler Florian Pumhösl eine »Methode«, keine Kategorie. Oder vielmehr, wenn Abstraktion die bestimmende Kategorie der Moderne ist, dann ist das Ziel, die Probleme und Beschränkungen der Moderne zu reproduzieren und die Beziehungen zwischen ihren Elementen auszunutzen. Vor dem Hintergrund dessen, was Pumhösl den »Gewebekomplex« der Moderne nennt, untersucht dieser Beitrag das Werk des Künstlers und führt es mit Charles Sanders Peirces Diagramm-Konzept und Gottfried Sempers Einsatz von »textilen« Diagrammen in seinem Werk Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten eng.
Kathryn M. Rudy: Sewing as Authority in the Middle Ages
This essay considers medieval sewing in light of Austin’s speech-act theory. Analysing manuscripts, relics, indulgences, and even a bishop’s mitre, the article argues that stitching was a way to enact, or intensify, the ritual purpose of objects, whether that was ceremonial, devotional, or authoritative. Whereas a speech act functions by its utterance, stitches act by forming visible and often ceremonious attachments between materials in order to aggrandise, embellish, assert and layer authority, or swathe an object in textiles as if it were a relic.
Dieser Essay betrachtet mittelalterliches Nähen im Licht von Austins Sprechakttheorie. Indem er Manuskripte, Reliquien, Ablässe und sogar die Mitra eines Bischofs analysiert, argumentiert der Artikel, dass Nähen eine Weise war, den rituellen Gebrauch der Objekte einzusetzen oder zu intensivieren – ob es sich nun um zeremonielle, devotionale, oder autoritative Zwecke handelte. Während ein Sprechakt durch seine Äußerung agiert, handeln Nähstiche, indem sie sichtbare und oft feierliche Verbindungen zwischen Materialien schaffen, um Autorität zu steigern, zu verschönern, zu behaupten und zu schichten – oder um einen Gegenstand in Textilien zu hüllen, als handelte es sich um eine Reliquie.
Birgit Schneider: Klangteppiche. Transmediale Verhältnisse zwischen Weberei und Musik
Ausgehend von der griechischen Mythologie werden die vielfältigen Beziehungen zwischen Singen und Weben, dem Flechttanz und den strukturellen Ähnlichkeiten von Notationsformen und Steuerungsprinzipien in Musik und Weberei ausgelotet. Es zeigt sich, dass das Verhältnis der Zeitkunst Musik und der Raumkunst Weberei weit über das hinausweist, was sich im bloß metaphorischen Sprechen von ›Klanggeweben‹ abzeichnet. Die Beziehung zwischen Kunstformen und Medien bringt vielmehr mythisch-spirituelle Ebenen zum Ausdruck. Die Umwandlung von Geweben in Musik respektive Musik in Weberei wiederum macht das kreative Potential der Transposition fruchtbar.
Based on Greek mythology, the multiple relationships between singing and weaving, »Flechttanz« (»weaving dance«) and the structural similarities of forms of notation and principles of control in music and weaving are explored. It is found that the relationship between music (as a temporal art) and weaving (as a spatial art) goes far beyond that which the metaphor of »sound tissues« points at. Rather, the relationship between art forms and media expresses mythical and spiritual levels. The transformation of tissues in music or, respectively, music in tissues, makes the creative potential of transposition productive.
Wolf Kittler: Couleurs à la mode. Impressionism as an Effect of the Chemical Industry
The invention of aniline and other synthetic dyes in the second half of the nineteenth century is the beginning of a new epoch. The new colors produced by the fledgling chemical industry are not only brighter than most of the traditional dyestuffs, but also much cheaper. They change the appearance of women on the streets of the modern city. Among the first media to notice and document this revolution are fashion magazines, realist novels, and Impressionist paintings. I argue that the bright colors on the new palette of Impressionist painters are a direct effect of the chemical industry.
Die Erfindung von Anilin und anderen synthetischen Farbstoffen in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ist der Beginn einer neuen Epoche. Die von der noch jungen chemischen Industrie produzierten neuen Farben sind nicht nur leuchtender als die meisten der traditionellen Farbstoffe, sondern auch viel billiger. Sie verändern das Aussehen von Frauen auf den Straßen der modernen Stadt. Unter den ersten Medien, die diese Revolution bemerken und dokumentieren, sind Modezeitschriften, realistische Romane und impressionistische Gemälde. Der Beitrag zeigt, dass die strahlenden Farben der neuen Palette der impressionistischen Maler ein direkter Effekt der chemischen Industrie sind.