Der Aufsatz sondiert das geisteswissenschaftliche Feld einer Theorie von Praktiken mit dem Fluchtpunkt der Literaturwissenschaften. In der germanistischen Forschung hat der Fokus auf Praktiken zur Neujustierung der Literatursoziologie geführt, der eine dezidierte praxeologische Begründung fehlt. Die ›Ursprünge‹ praxeologischer Theoriebildung liegen in der Soziologie, deren aktuelle Positionierungen die Analyse von Praktiken mit poststrukturalistischen Theoremen zu verbinden suchen. Dabei werden Michel Foucaults Diskurskonzept und dessen Arbeiten zu den antiken Praktiken des Selbst in ein kultursoziologisches Programm integriert (Reckwitz). Der Beitrag argumentiert, dass dies Foucaults eigenem Verständnis von Praktiken zuwiderläuft. Denn anders als die sozialtheoretische Praxeologie denkt Foucault Praktiken nicht als ein zwischen agency und structure vermitteln- des Handlungsterrain. Sein doppelter Praktikenbegriff stellt eine unhintergehbare Interdependenz von Prozessen der Disziplinierung und ästhetischer Formung, von Norm und Freiheit zentral und bringt so einen genuin ethischen Gehalt von Praktiken ins Spiel. Foucaults Ausführungen zur ästhetischen Form von Praktiken sind aber so wenig spezifisch, dass hier ein Einsatzpunkt für die Literaturwissenschaften liegt, den ›späten‹ Foucault für eine Revision der Dynamiken von Ethik und Ästhetik produktiv zu machen. In dieser Perspektive lassen sich die Künste nicht als Zirkulationsräume ethischen Wissens, sondern als praktische Erprobungsfelder moralischer Formungsprozesse verstehen, in denen sich Normerfüllung und agency verbinden. Anvisiert wird dergestalt ein Beitrag zur Theorie des Zusammenhangs von Ethik und Ästhetik, der es ermöglicht, die ästhetische Formung praktischer Moralität und in diesem Sinne das ethos, ja die konkreten Tugendübungen der Literatur zu untersuchen.
The essay explores the significance of ›practice theory‹ for the humanities, especially for literary studies. In recent German studies, the focus on practices has initiated a new sociology of literature, lacking an elaborated praxeological justification. The ›origins‹ of practice theory lie in sociology, whose current approaches seek to link the analysis of practices with poststruc- turalist theorems. In doing so, cultural sociology integrates Michel Foucault’s discourse ana- lysis and his studies on ancient practices of the self into its agenda (Reckwitz). The article argues that this runs contrary to Foucault’s own understanding of practices. Unlike sociologi- cal theories, Foucault does not conceptualize practices as a field of action mediating between ›agency‹ and ›structure‹. His twofold concept of practices points out that practices arise from an ineluctable interplay of disciplinary power and aesthetic formation, of norm and freedom, thus arguing for a genuinely ethical substance of practices. However, Foucault’s remarks on the aesthetic form of practices remain unspecific. At this point, literary studies can step in by revising the dynamics of ethics and aesthetics from the ›late‹ Foucault’s perspective. In so doing, the arts are not understood as discourses negotiating or distributing moral knowledge but as practical fields where moral takes form by both acting according to ›the‹ norm and acting ›freely‹. Thus, the article aims to conceptualize the nexus of ethics and aesthetics in a new manner. Rethinking ethics as practical morality shaped by aesthetic processes allows for examining the ›ethos‹ or: the concrete exercises of virtue in literature.
- | Kapitel kaufen CoverU1
- | Kapitel kaufen Inhaltsverzeichnis3
- | Kapitel kaufen ABSTRACTS5
- | Kapitel kaufen Carsten Dutt: Das leere Grab – mit fremdem Leben erfüllt. Allusion und Reflexion in Jeff Walls Fotoarbeit The Flooded Grave5
- | Kapitel kaufen Claudia Benthien und Julia Catherine Berger: Vanitas-Stillleben in der Videokunst – Aktuelle Perspektiven eines barocken Motivs und ihreGestaltung von Zeitlichkeit5
- | Kapitel kaufen Carolin Rocks: Ästhetisches ethos – Praxeologie, Foucaults ethische Praktiken und die Literaturwissenschaften6
- | Kapitel kaufen Sarah Hegenbart: Can the institutional theory of art survive zombie formalism?7
- | Kapitel kaufen Burkhard Liebsch: Gewalt, Ordnung und außerordentliche Erfahrung. Zur Beschreibung der Diskussionslage – in pathisch-ästhetischer Perspektive8
- | Kapitel kaufen Kim Sher: The End of Art Revised – The video-footage from the Museum of Mosul as an ›end‹ of the theory9
- | Kapitel kaufen Michael Wedel: Zeitgenosse Murnau – Eine verpasste Begegnung mit der »Gesellschaft für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft«10
- | Kapitel kaufen Angela Rapp: Was ein Ding zum Museumsding macht – und was es über unser Sehen verrät10
- | Kapitel kaufen ABHANDLUNGEN13
- | Kapitel kaufen Das leere Grab – mit fremdem Leben erfüllt. Allusion und Reflexion in Jeff Walls Fotoarbeit The Flooded Grave. Von Carsten Dutt13
- | Kapitel kaufen Vanitas-Stillleben in der Videokunst – Aktuelle Perspektiven eines barocken Motivs und ihre Gestaltung von Zeitlichkeit. Von Claudia Benthien und Julia Catherine Berger39
- | Kapitel kaufen Das Stille zum Leben erweckt: von Suggestion zu Fragmentierung43
- | Kapitel kaufen Im Zeitraffer: medial beschleunigter Verfall49
- | Kapitel kaufen Im Loop: Der ewige Kreislauf von Werden und Vergehen56
- | Kapitel kaufen Anmutungen von Echtzeit: Vanitas im Prozess60
- | Kapitel kaufen Ästhetisches ethos – Praxeologie, Foucaults ethische Praktiken und dieLiteraturwissenschaften. Von Carolin Rocks69
- | Kapitel kaufen I. Einführung69
- | Kapitel kaufen II. Praxeologie71
- | Kapitel kaufen A. Praktiken in der germanistischen Literaturwissenschaft71
- | Kapitel kaufen B. Praktiken in der Sozialtheorie79
- | Kapitel kaufen III. Praktiken des Selbst als ästhetisches ›ethos‹83
- | Kapitel kaufen A. Foucaults doppelter Praktiken-Begriff83
- | Kapitel kaufen B. Die ästhetische Form der Praktiken des Selbst90
- | Kapitel kaufen C. Tugendübungen. Das ethos der Literatur94
- | Kapitel kaufen Can the Institutional Theory of Art survive Zombie Formalism? By Sarah Hegenbart97
- | Kapitel kaufen I. Zombie formalism and other recent developments in contemporary arts98
- | Kapitel kaufen II. The ›artworld‹ as core of INST100
- | Kapitel kaufen III. The artworld phenomenon Damian Hirst and the hubris of global art markets102
- | Kapitel kaufen IV. Outlook: Working towards a curatorial standard of taste104
- | Kapitel kaufen Gewalt, Ordnung und außerordentliche Erfahrung. Zur Beschreibung der Diskussionslage –in pathisch-ästhetischer Perspektive. Von Burkhard Liebsch107
- | Kapitel kaufen I. Zum Verhältnis von Gewalt und Ordnung: Systematische Ansatzpunkte107
- | Kapitel kaufen II. Gewalt als politische Herausforderung110
- | Kapitel kaufen III. Diesseits der (einen) Ordnung115
- | Kapitel kaufen IV. Außerordentliche Erfahrung und das Erfahrene als solches116
- | Kapitel kaufen V. Eine pathisch-ästhetische Perspektive119
- | Kapitel kaufen VI Gegen die Normalisierung des Außerordentlichen123
- | Kapitel kaufen MISZELLEN129
- | Kapitel kaufen »The End of Art« Revised – The video-footage from the Museum of Mosul as an›end‹ of the theory. By Kim Sher129
- | Kapitel kaufen Zeitgenosse Murnau – Eine verpasste Begegnung mit der »Gesellschaft für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft«. Von Michael Wedel135
- | Kapitel kaufen Was ein Ding zum Museumsding macht –und was es über unser Sehen verrät. Von Angela Rapp143
- | Kapitel kaufen ANSCHRIFTEN DER AUTOREN UND AUTORINNEN166