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Ästhetisches ethos

Praxeologie, Foucaults ethische Praktiken und die Literaturwissenschaften


Zurück zum Heft: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Band 66. Heft 1
DOI: 10.28937/9783787340682_3
EUR 16,90


Der Aufsatz sondiert das geisteswissenschaftliche Feld einer Theorie von Praktiken mit dem Fluchtpunkt der Literaturwissenschaften. In der germanistischen Forschung hat der Fokus auf Praktiken zur Neujustierung der Literatursoziologie geführt, der eine dezidierte praxeologische Begründung fehlt. Die ›Ursprünge‹ praxeologischer Theoriebildung liegen in der Soziologie, deren aktuelle Positionierungen die Analyse von Praktiken mit poststrukturalistischen Theoremen zu verbinden suchen. Dabei werden Michel Foucaults Diskurskonzept und dessen Arbeiten zu den antiken Praktiken des Selbst in ein kultursoziologisches Programm integriert (Reckwitz). Der Beitrag argumentiert, dass dies Foucaults eigenem Verständnis von Praktiken zuwiderläuft. Denn anders als die sozialtheoretische Praxeologie denkt Foucault Praktiken nicht als ein zwischen agency und structure vermitteln- des Handlungsterrain. Sein doppelter Praktikenbegriff stellt eine unhintergehbare Interdependenz von Prozessen der Disziplinierung und ästhetischer Formung, von Norm und Freiheit zentral und bringt so einen genuin ethischen Gehalt von Praktiken ins Spiel. Foucaults Ausführungen zur ästhetischen Form von Praktiken sind aber so wenig spezifisch, dass hier ein Einsatzpunkt für die Literaturwissenschaften liegt, den ›späten‹ Foucault für eine Revision der Dynamiken von Ethik und Ästhetik produktiv zu machen. In dieser Perspektive lassen sich die Künste nicht als Zirkulationsräume ethischen Wissens, sondern als praktische Erprobungsfelder moralischer Formungsprozesse verstehen, in denen sich Normerfüllung und agency verbinden. Anvisiert wird dergestalt ein Beitrag zur Theorie des Zusammenhangs von Ethik und Ästhetik, der es ermöglicht, die ästhetische Formung praktischer Moralität und in diesem Sinne das ethos, ja die konkreten Tugendübungen der Literatur zu untersuchen.
The essay explores the significance of ›practice theory‹ for the humanities, especially for literary studies. In recent German studies, the focus on practices has initiated a new sociology of literature, lacking an elaborated praxeological justification. The ›origins‹ of practice theory lie in sociology, whose current approaches seek to link the analysis of practices with poststruc- turalist theorems. In doing so, cultural sociology integrates Michel Foucault’s discourse ana- lysis and his studies on ancient practices of the self into its agenda (Reckwitz). The article argues that this runs contrary to Foucault’s own understanding of practices. Unlike sociologi- cal theories, Foucault does not conceptualize practices as a field of action mediating between ›agency‹ and ›structure‹. His twofold concept of practices points out that practices arise from an ineluctable interplay of disciplinary power and aesthetic formation, of norm and freedom, thus arguing for a genuinely ethical substance of practices. However, Foucault’s remarks on the aesthetic form of practices remain unspecific. At this point, literary studies can step in by revising the dynamics of ethics and aesthetics from the ›late‹ Foucault’s perspective. In so doing, the arts are not understood as discourses negotiating or distributing moral knowledge but as practical fields where moral takes form by both acting according to ›the‹ norm and acting ›freely‹. Thus, the article aims to conceptualize the nexus of ethics and aesthetics in a new manner. Rethinking ethics as practical morality shaped by aesthetic processes allows for examining the ›ethos‹ or: the concrete exercises of virtue in literature.