Die für diesen Band zusammengestellten Texte geben Cassirers Gedanken zur Politik und zur Philosophie des Politischen wieder. Außerdem zeichnen sie ein Bild seines politischen Engagements nicht nur in Berlin und Hamburg, sondern auch in Schweden und in den USA.
Die Materialien, die den Zeitraum von der Mitte des Ersten Weltkrieges (1916) bis zu Cassirers Tod (1945) umfassen, bieten u.a. Einblicke in seine Auffassung des philosophischen Staatsbegriffs, des Rechtsbegriffs, der Frage universaler oder national bedingter Geltung philosophischer Wahrheiten und in den Begriff der Demokratie. Einige Texte befassen sich mit der Verantwortung des Philosophen gegenüber antihumanistischen Bestrebungen in Wissenschaft, Kultur und Politik.
Besonders hervorzuheben sind Ausschnitte des dritten Teils der Manuskriptfassung vom 'Myth of the State', die nicht in die Veröffentlichung aufgenommen worden sind, so z.B. Passagen über Adolf Hitler, Alfred Rosenberg oder den Antisemitismus.
Inhalt:
Der deutsche Idealismus und das Staatsproblem. Vorlesung, gehalten am 13.3.1916 in der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. / Zum Begriff der Nation. Eine Erwiderung auf den Aufsatz von Bruno Bauch. 1916 verfaßter Artikel für die Kant-Studien, nicht veröffentlicht. / [Begriff und Problem der Demokratie] Vortragsmanuskript für eine Vortragsreihe des Hamburger 'Werkbundes geistiger Arbeiter' zu diesem Thema, vermutlich 1920er Jahre. / [Ansprache des Rektors zur Reichsgründung der Hamburgischen Universität] / Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geistesgeschichte. Vortrag, gehalten zur Verfassungsfeier der Universität Hamburg, am 22.7.1930. / Die staatliche und gesellschaftliche Wirklichkeit. 1. Die Methode der Sozialphilosophie / Die Idee des Rechts und ihre Entwicklung in der modernen Philosophie. Vermutlich für eine Lehrveranstaltung im SS 1932, Universität Hamburg. / Rechtsproblem - Beziehung zum Gottesproblem. Vermutlich für eine Lehrveranstaltung im SS 1932, Universität Hamburg. / Der Begriff der Philosophie als Problem der Philosophie. Antrittsvorlesung, gehalten im Okt. 1935 an der Universität Göteborg. / Philosophy and Politics. Vortrag; gehalten am 3.4.1944 am Connecticut College in New London, USA. / The Technique of our Modern Political Myths. Vorlesung, angekündigt für den 18.1., gehalten am 1.2.1945 in der Princeton University/USA. / The Myth of the State, Teil III (New Haven, 1943/44). In die Druckfassung 1946 nicht aufgenommen. / Racen-Mythos. Paralipomena zu dem Buch 'The Myth of the State'.
Diese fesselnde Publikation, die Cassirers häufig unterschätzte politische Standfestigkeit materialienreich unterstreicht, enthält auch die zum ersten Mal in deutscher Sprache publizierte Antrittsrede seiner Exilprofessur in Göteborg vom Oktober 1935. In ihr stellt er sich einer Diagnose Albert Schweitzers. Dieser, so Cassirer, erkenne, 'in unserer Kultur schwere geistige und ethische Schäden, ud er wirft der zeitgenössischen Philosophie vor, dass sie diese Schäden nicht früh genug gesehen und daher nicht rechtzeitig vor ihnen gewarnt hat'.
Die Warte / Luxemburger Wort 4.3.2010
Dieser neunte Band verdeutlicht sehr prägnant, wie entschlossen Cassirer kulturphilosophisch ansetzt. Er geht von der Erschütterung der nationalen Identität und neuhumanistischen Kultur durch den überspannten Nationalismus und den Antisemitismus aus und sucht die normative Orientierung im Rückgang hinter die politischen Verfassungsfragen durch eine Verhältnisbestimmung von Kultur und Staat zu stärken.
Der umfangreichste Text dieses Bandes dürfte hier eine kleine Sensation sein: die Erstveröffentlichung einiger unfertiger Kapital vom 'Myth of the State', die Charles W. Hendel, ein Kollege, nach Cassirers plötzlichem Tod in eigener Entscheidung ausschied. Die Hamburger Ausgabe bringt die amerikanische Buchfassung. Mit den ausgeschiedenen Kapiteln zusammengenommen kann die Diskussion nun differenzierter geführt werden.
Der neunte Band ermöglicht insgesamt eine ernste Besinnung auf die nationale Problematik, die Cassirer zu seiner katholischen Revision der kulturellen Grundlagen der Humanität führte. Er ermöglicht eine entwicklungsgeschichtliche Gesamtbesinnung auf Cassirers idealistischen Grundgedanken, zeigt das Bekenntnis zum Primat der praktischen Vernunft und macht das Krisenbewußtsein von der Fragilität der nationalen Humanitätskultur deutlich, das Cassirer zum Rückgang hinter Fichtes Naturrecht auf die platonische Gerechtigkeitsidee führte. Die Edition dokumentiert den Weg zum 'Myth of the State' und macht dieses unabgeschlossene Werk als echtes Schlußwerk und Vermächtnis stark. Beilagen knapper Parallelaufzeichnungen vertiefen den Blick in die Werkstatt.
Das Buch ist gut lesbar. Die wichtigsten Texte sind ausformuliert. Es verliert sich nicht in Marginalien, sondern wirft neues Licht auf die politischen Wurzeln von Cassirers Kulturphilosophie. Die Berliner Ausgabe ist sehr aufwendig. John Michael Krois und Christoph Möckel sind erfahrene Kenner.
Philosophischer Literaturanzeiger, Bd. 61, Heft 2 (April-Juni 2008)