Die frühen Tagebücher Rudolf Carnaps, mit deren Edition die Ausgabe seiner Schriften aus dem Nachlass eröffnet wird, bieten einen einzigartigen Einblick in die Motive und Gedanken einer Schlüsselfigur der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Sie liefern unerlässliche Informationen zu Entstehung und Hintergrund von Carnaps Werk, aber auch zur (Vor-) Geschichte des Wiener Kreises und des Logischen Empirismus.
Rudolf Carnap (1891–1970) war einer der wichtigsten Vertreter der europäischen Philosophie der Zwischenkriegszeit wie auch der amerikanischen analytischen Philosophie der Nachkriegszeit. Carnap steht für eine Professionalisierung der Philosophie, die für die analytische Philosophietradition insgesamt charakteristisch ist. Seine wissenschaftliche Karriere nahm jedoch erst in den Zwanzigerjahren an Fahrt auf. Als junger Mann war Carnap Teil der deutschen Jugendbewegung, für die die Tagebücher aus der Vorkriegszeit ein eindrucksvolles Dokument bieten. Auch sein »Kriegstagebuch« ist hier erstmals historisch-kritisch ediert. Carnaps Werk ist geprägt vom Modernismus, den er in den 1920er-Jahren unter dem Einfluss der Bauhaus-Szene und des Wiener Kreises entwickelt und dann nie wieder aufgegeben hat. Seine Tagebücher sind einem neusachlichen Stil verpflichtet, der sie zu einer faszinierenden Lektüre werden lässt. Die Edition entstand, in Zusammenarbeit mit zahlreichen internationalen Forscherinnen und Forschern, am Institut Wiener Kreis der Universität Wien. Die Tagebücher sind sorgfältig nach einheitlichen Editionsrichtlinien ediert und werden durch eine umfangreiche Einleitung des Herausgebers, Register und Bibliographie sowie zahlreiche Abbildungen und Faksimiles ergänzt.
Die zunächst sporadischen, ab 1920 lückenlosen Aufzeichnungen sind eine Quelle, die neue Einsichten in die Geschichte der Philosophie des vorigen Jahrhunderts eröffnen wird. (…) Die Tagebücher zeigen, dass Carnap am kulturellen und politischen Geschehen teilnahm. An einen Rückzug auf die „eisigen Firne der Logik“ erinnern sie nicht, sondern eher an die berühmte Maxime, mit der die Programmschrift des „Kreises“ schloss: „Die wissenschaftliche Weltauffassung dient dem Leben und das Leben nimmt sie auf.“ FAZ. 25.03.2022