Dieser Sonderband des Archivs für Begriffsgeschichte behandelt die prägendsten geistesgeschichtlichen Begriffe des neunzehnten Jahrhunderts: Begriff, Bewusstsein, Bildung, Bürgertum, Dialektik, Energie, Entfremdung, Entwicklung, Geist, Geschichte, Klasse, Kritik, Mechanismus, Nation, Partei, Politische Freiheit, Revolution, Unbewusstes, Volk, Weltanschauung, Wille und Wissenschaft.
Das 19. Jahrhundert ist zu Recht das lange Jahrhundert genannt worden. Wie es mit einem Epochenumbruch, dem der Revolution, beginnt, so endet es: mit dem Ersten Weltkrieg und dem Eintritt der beiden späteren Weltmächte, den USA und Sowjetrussland, in die Weltgeschichte. Dazwischen bestimmen andere Revolutionen und Restaurationen, Kriege und Friedenszeiten das politische Geschehen. Die Geistes- und Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts kennt weder eine dominierende Strömung noch eine kontinuierliche Entwicklung. Karl Löwith spricht vom »revolutionären Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts«, der vor allem von Marx und Kierkegaard markiert werde. Beider Opposition zu Hegel und zum Idealismus wird begleitet vom gleichzeitigen Aufschwung des Positivismus, dann vom Neukantianismus, Materialismus, Darwinismus, Pragmatismus und vielerlei weiteren Ismen, für die das Zeitalter kennzeichnend ist und für die es den neutralen Oberbegriff »Weltanschauung« bereithält.
Mehr als vorangegangene Epochen wird das 19. Jahrhundert von Begriffen geprägt, die die öffentlichen Debatten bestimmen, von solchen der Wissenschaften wie denen der Politik. Viele Termini werden über den engeren fachlichen Rahmen hinaus populär: Wer spricht nicht um 1900 in vielfältiger Bedeutung von ›Energie‹, ›Entwicklung‹, ›Mechanisierung‹, ›Unbewusstem‹ etc. Solche Begriffe werden, sobald sie aus ihrem ursprünglichen Kontext heraustreten, schnell universal, damit aber auch unscharf. Da sich Richtungen und Schulen entgegentreten, verwischen und überlagern, kann es keine Begriffe geben, die dem Jahrhundert insgesamt eingeprägt sind. Die hier vorgestellten Begriffsgeschichten sollen deshalb nicht die Einheitlichkeit der Zeit, sondern deren Vielfalt und Widersprüchlichkeit wiedergeben.
Begriff (Christoph Asmuth)
Bewusstsein (Gerald Hartung)
Bildung (Friedhelm Brüggen)
Bürger, Bürgertum (Gunilla Budde)
Dialektik (Annette Sell und Myriam Gerhard)
Energie (Ernst Müller)
Entfremdung (Micha Brumlik)
Entwicklung, Evolution (Falko Schmieder)
Geist (Andrzej Przylebski)
Geschichte (Ulrich Dierse)
Klasse (Alois Hahn und Matthias Hoffmann)
Kritik (Christian Krijnen)
Mechanismus (Renate Wahsner)
Nation (Christian Geulen)
Partei (Holger Glinka)
Politische Freiheit (Jürgen Goldstein)
Revolution (Olaf Briese)
Unbewusstes (Ralf Becker)
Volk (Peter Brandt)
Weltanschauung (Gunter Scholtz)
Wille (Matthias Koßler)
Wissenschaft (Helmut Pulte)
"… das beindruckend vielschichtige und nach vielen Seiten offene Panorama einer Zeit, die in vielen Teilen auch noch unsere eigene ist"
literaturkritik.de, Cathrin Nielsen, 23.12.2015
"Es liegt mit diesem Band ein gediegenes, sehr informatives Werk vor, das den entsprechenden Band zum 20. Jahrhundert gut ergänzt und die Hoffnung auf einen analogen Band zum 18. Jahrhundert in der gleichen Aufmachung nährt. Es dürfte sein Ziel ohne weiteres erreichen, dem 19. Jahrhundert Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, denn die gut lesbar geschriebenen Beiträge regen allemal dazu an, dem 19. Jahrhundert wieder einmal mehr Beachtung zu schenken. Der Band ist deshalb nicht nur für Philosophen und begriffsgeschichtlich interessierte Historiker, sondern auch für Literaturwissenschaftler von großem Interesse." Informationsmittel (IFB) : digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und Wissenschaft, Till Kinzel, 05.02.2016