Das Mula-madhyamaka-karika (Die Lehre von der Mitte) ist das Hauptwerk des Nagarjuna. Es ist im ursprünglichen Sanskrit, dann auch in tibetischer und chinesischer Fassung überliefert worden. Die Sanskrit- und die tibetische Version ist in einen umfangreichen Kommentar des Candrakirti (ca. 600 - 650 n. Chr.) eingebettet, die chinesische Übersetzung des Kumarajiva (344 - 413 n. Chr.) in einen ebenso umfangreichen Kommentar des Pingala (spätes 3. bis frühes 4. Jh.), die beide für die Aufnahme in Indien und im weiteren Asien maßgeblich wurden. An sie schließt daher auch das Verständnis dieses Grundtextes des Mahayana-Buddhismus in den Übersetzungen in die neueren Sprachen an. Allerdings hat sich außer dem chinesischen Übersetzer Kumarajiva, dessen Text in dieser Ausgabe zugrundegelegt wird, kein anderer Übersetzer gefunden, der das Lehrgedicht auch in Versform dargeboten hätte.
Die Grundlage der Schrift besteht im dogmatischen Anschluß an die Lehre des Buddha vom Leiden aller Wesen in der Welt und an den von Buddha gewiesenen "Heilsweg", der zur Erlösung vom Leiden führen soll. Das Philosophische der Schrift aber besteht in den originellen Analysen des Nagarjuna, was Leiden überhaupt bedeutet und worin das Ziel des Heilsweges überhaupt bestehen kann. Dazu bietet Nagarjuna eine weit ausgedehnte Gelehrsamkeit auf. Er kennt alle Argumente der brahminischen (hinduistischen) Schulen, ebenso diejenigen seiner buddhistischen Vorgänger und setzt sich mit ihnen auseinander. Der Herausgeber dieser Ausgabe vertritt aber darüber hinaus die begründete These, daß Nagarjuna ersichtlich auch Kenntnisse von der griechischen Philosophie hatte, die ihn zu seinen ungewöhnlichen Argumenten inspirierten.
Es ist nun das große Verdienst Lutz Geldsetzers und des Felix Meiner Verlages, dieses zentrale Werk in einer vollständigen deutschen Übersetzung vorzulegen, in dem zugleich die Wahrscheinlichkeit dargelegt wird, dass sich Nagarjuna bei seinen vier Ursachen auf Aristoteles bezieht. Parallel zum chinesischen Text übersetzt Geldsetzer diesen zentralen Text des Großen Fahrzeugs und erörtert im Vorwort und im ausführlichen Kommentar insbesondere seine These von der Bezugnahme auf Aristoteles. Das Büchlein eignet sich nicht nur als anregende Lektüre für den philosophisch interessierten, sondern es wird hoffentlich auch die weitere Beschäftigung mit der buddhistischen Philosophie im deutschen Sprachraum anregen.
Helwig Schmidt-Glinzer im Fachbuchjournal 2/2010