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Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Band 49. Heft 2


Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft (ZÄK) 49/2. 2004. 164 Seiten.
0044-2186. Kartoniert
EUR 68,00


Astracts


Dietmar Schmidt: Vom Neptunismus zum „schaffenden Gewebe“ – Die Genese des Lebendigen bei Caspar Friedrich Wolff und Johann Wolfgang von Goethe


In der frühen, mikroskopisch begründeten Epigenesis-Theorie Caspar Friedrich Wolffs (1734-1794) ist das Gewebe Produkt elementarer Naturprozesse. Es bildet den Anfangsgrund des Lebendigen, ohne bereits selbst organisch zu sein. Wolff impliziert einen quasi-göttlichen Blick, indem er die Entstehung des Gewebes in Metaphern und Narrationen der Erdgeschichte beschreibt. Seine Theorie hat einen merkwürdigen wissensgeschichtlichen Status: Im 18. Jahrhundert blieb sie weitgehend unbekannt. Im 19. Jahrhundert jedoch hat sie als Vorläuferin entwicklungsbiologischen Wissens gegolten. Goethes Wolff-Rezeption zeigt, wie diese imaginäre, nachträgliche Vorläuferschaft auf der Grundlage einer Proliferation von Metaphern, einer Übertragung übertragener Rede entsteht. Im Rückgriff auf Wolff gelangt Goethe zu einem gleichzeitig biologischen und poetischen Gewebe-Konzept.



In Caspar Friedrich Wolff’s (1734-1794) early epigenetic theory, which is based on microscopical observations, ›Gewebe‹ (tissue, texture) is believed to be the product of elementary procedures of nature. It forms the basic matter of organized life without itself being organized. By describing the formation of ›Gewebe‹ in geological metaphors and narrations, Wolff implies a godlike view. For the history of knowledge the status of his theory is curious. In the 18th century it was widely unknown, but in the 19th century it was considered as an ancestor of embryology. Goethe’s occupation with Wolff shows how this imaginary and belated ancestry is based on the circulation of metaphors, on the figuration of figurative meaning. By referring to Wolff, Goethe is led to a notion of ›Gewebe‹ which at the same time is biological and poetic.



Johannes F. Lehmann: Die Seele ist Fleisch: Physiologie und Ästhetik der Faser in Diderots „Le Rêve de d’Alembert“


Die Physiologie der Faser spielt für die materialistischen Denker des 18. Jahrhunderts und ihren Versuch, den Menschen und sein Bewußtsein ohne Seele zu denken, eine entscheidende Rolle. Denis Diderots spezifisch avancierte Position in diesem Feld liegt darin, so die These dieses Beitrags, daß er in seine Physiologie der Faser ästhetische Unterscheidungen und in seine ästhetischen Modelle die Physiologie der Faser hineinprojiziert. Vor dem Hintergrund der (mechanistischen und vitalistischen) Geschichte der Faser im 17. und 18. Jahrhundert wird diese These anhand einer genauen Lektüre von Diderots Text Le Rêve de d’Alembert entfaltet. Das aus den belebten Fasern emergierende Bewußtsein, das ist der Zielpunkt der Argumentation, funktioniert wie ein Beobachter zweiter Ordnung und weist daher enge strukturelle und konstitutive Parallelen zu Diderots Umgang mit ästhetischen Beobachterrelationen in Theater (Zuschauer – Bühne) und Malerei (Betrachter – Bild) auf.



The physiology of fibre is crucial to the materialist thinkers of the 18th century and their attempt to think about man and his consciousness without a soul. The specifically advanced position of Denis Diderot in this field has its roots in the fact that he projects aesthetic distinctions into his physiology of fibre and that he uses terms of physiology in his aesthetic models. After a short summary of the history of fibre in the 17th and 18th century this assertion is illustrated by a detailed reading of Diderots text „Le Rêve de d’Alembert“. The consciousness emerges from the living fibre and, this will be the main point of the argument, is described as an observer of second order. It has, therefore, structural and constitutive parallels to Diderot’s thinking of the aesthetic relation of observation in theatre (audience – stage) and fine art (beholder – painting).


Natalie Binczek: Das veränderliche Gewebe – Zur Empfindungstheorie in Lessings „Laokoon“.


Der Beitrag analysiert die Funktion und Bedeutung einer Textstelle in Lessings Laokoon, an welcher die Gewebe-Metapher in bemerkenswerter Weise entfaltet wird: als ›veränderliches Gewebe der Empfindungen‹ nämlich. Im Sinne einer anthropologischen Voraussetzung liegt dieses den ästhetischen Überlegungen der Abhandlung zugrunde und verweist auf das sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchsetzende Konzept des neuronalen Gewebes, wie Tissot es paradigmatisch darstellt. Der folgende Beitrag richtet sich dabei auf zwei Aspekte: Zum einen fragt er nach den Ähnlichkeiten und Differenzen von Lessings Gewebebezug im Vergleich zu Tissots Verständnis. Damit nimmt er die Grenze zwischen dem ästhetischen und medizinischen Interesse in den Blick. Zum anderen geht er den Konsequenzen dieser gewebeorientierten Empfindungstheorie für die Unterscheidung der Künste im Laokoon nach.


This article analyses the function and meaning of a passage in Lessing’s „Laokoon“, where the metaphor of ›Gewebe‹ is developed significantly: namely as ›veränderliches Gewebe der Empfindungen‹. It constitues the anthropological fundament of the aesthetic reflection determining Lessing’s text. Furthermore it points to neurological concepts, established in the second half of the 18th  century and paradigmatically explained by Tissot. The followingarticle focuses on two aspects: First it asks for the analogies and differences between the ›Gewebe‹ used in Lessing’s text in comparison to the understanding of Tissot. This touches the borderline between aesthetics and medicine. Secondly it thematizes the consequences leading from this ›veränderlichem Gewebe der Empfindungen‹ to the aesthetic differences focussed on in „Laokoon“.


Barbara Thums: Das feine Gewebe der Organisation – Zum Verhältnis von Biologie und Ästhetik in Karl Philipp Moritz’ Kunstund Ornamenttheorie


Der Beitrag thematisiert das Verhältnis von Karl Philipp Moritz’ Kunst und Ornamenttheorie zu dem sich im 18. Jahrhundert neu formierenden Wissen der Biologie, konkreter zum Zeugungsmodell der Epigenesis und zur Annahme eines den lebendigen Organismen zugrundeliegenden Bildungstriebs. Deutlich wird dies anhand der funktionalen Bestimmung, welche der Begriff einer bildenden Nachahmung innerhalb von Moritz’ doppelter Begründung des Schönen im Spannungsfeld von Metaphysik und Anthropologie einnimmt. Der Gewebereferenz kommt dabei eine ausgezeichnete Stellung als Vermittlungsinstanz zu: Die Setzung einer analogischen Strukturbestimmung zwischen dem makrokosmischen Gewebe des Naturschönen und dem mikrokosmischen Gewebe des Kunstschönen soll jene Fäden wieder zusammenknüpfen, die zur Bildung des autonomen Kunstwerks als Spiegelbild des nur für das Auge Gottes sichtbaren Zusammenhangs der Dinge notwendigerweise durchtrennt werden mußten. Im Rekurs auf die für diese Bestimmungen systemrelevante Theoretisierung des Ornamentalen sowie auf das hierfür leitende wahrnehmungstheoretische Konzept der Aufmerksamkeit wird dargelegt, wie prekär das Festhalten an der metaphysischen Begründung des Schönen und den Erwartungen einer klassizistischen Kunst der Grenzziehung ist, die verspricht, eine klare Trennung zwischen dem Gebildeten / Bestimmten / Organisierten und dem Ungebildeten / Zufälligen / Unorganisierten vornehmen zu können.


This article touches upon the way in which Karl Philipp Moritz’s theory of art and ornament can be said to draw from concepts emerging in 18th century biology, such as the epigenetic model of organic development, or the idea of a formative drive intrinsic to living organisms. I will argue that such biological models shape how Moritz locates the function of mimetic representation within his dual legitimation of beauty (as grounded in metaphysics and anthropology). Implying structural analogy, Moritz conceives of ›Gewebe‹ (tissue, fabric, weave) as a mediator between what he takes to be the macrocosmic texture of natural beauty and the microcosmic texture of artistic beauty. He implies that the analogies between types of ›Gewebe‹ will ultimately help to mend the threads of fabric that had to be severed, as it were, in order to reach artistic autonomy. My thesis is, then, that if one considers Moritz’s theory of ornament and its underlying model of perception as ›Aufmerksamkeit‹ (alertness, attentiveness), it becomes evident how precarious the insistence on the metaphysical foundation of beauty and the neo-classical concept of rigid borders, promising a clear distinction between the formed / determined / organised, and the unformed / accidental / disorganised, is.


Andreas B. Kilcher: Lessings Changeant: Der Witz als enzyklopädische Textur


Lessings Unterscheidung von ›Genie‹ und ›Witz‹ läßt sich nicht nur als eine ästhetische, sondern auch als eine epistemologische verstehen, genauer als eine Alternative zweier enzyklopädischer Organisationen von Wissen. Die eine ist darauf aus, eine Einheit von Teilen zu synthetisieren, während die andere in ›wildem‹ Kombinationsfluß aus disparaten Elementen eine Textur bildet, die Lessing als ›Changeant‹ bezeichnet. Die Witztheorie des 18. und frühen 19. Jahrhunderts greift Lessings Angebot auf, indem sie zur Plattform epistemologischer und zugleich poetologischer Argumentation wird, insofern die ›witzigen‹ Verknüpfungstechniken eine analoge Strukturierung von Welt, Natur und Kunst ermöglichen, wobei sie allerdings diese in einer hypertrophen Form zugleich auch zu unterhöhlen drohen. Deshalb fordern zunächst die Ästhetiken der Aufklärung vom Dichter ein Regulativ ein, welches eine Ordnung der Ähnlichkeiten zuläßt und einer verselbständigten Vernetzung des Fragmentarischen entgegenwirkt. Die Romantik (Schlegel, Jean Paul) wiederum bezieht sich geradezu apologetisch auf Lessings ›Changeant‹ und macht den Witz in seiner ›regellosen‹ Form zum zentralen Verfahren eines enzyklopädisch ausgreifenden, vernetzenden Schreibens. Der Siegeszug des Idealismus dagegen (Hegel) wird sodann lesbar als eine Aufkündigung dieser romantischen Kontextur des Witzes und ihre Substituierung durch eine ›philosophische Enzyklopädik‹, welche eine hierarchische Systematik der Wissenschaften etablieren soll.


Lessing’s differentiation between genius and wit can be understood not only aesthetically but also epistemologically, as denoting two alternative forms of the encyclopedic organization of knowledge. One aims at a synthesis e pluribus unum, while the other, through the ›wild‹ flow of association of disparate elements, forms a texture Lessing calls ›changeant‹. The wit-theory of the 18th and early 19th centuries builds on Lessing’s offering when it becomes a platform for epistemological and poetological argumentation, insofar as ›witty‹ associative methods enable an analogous structuring of world, nature, and art, though as such it is ultimately undermined by its own hypertrophied form. Thus the aesthetics of the enlightenment demand that the poet provide a regulative principle to permit the ordering of similarities and to counteract the formation of self-generating networks of fragments. Romanticism (Schlegel, Jean Paul) takes Lessing’s changeant almost as its apology and makes wit in its unregulated form the central process in an encyclopedically inclusive, networked graphomania. The triumphal march of idealism (Hegel), in contrast, can then be read as a denunciation of this romantic texture of wit and its replacement by a ›philosophical encyclopedics‹ intended to establish a hierarchical systematics of the sciences.


Armin Schäfer: Das Gewebe aus Sichtbarem und Sagbarem


Der Beitrag versucht eine These von Michel Foucault zu erläutern. Im 17. und 18. Jahrhundert gründet die naturgeschichtliche Ordnung des Wissens vom Leben auf einer im weitesten Sinne kongruenten Beziehung von Sichtbarem und Sagbarem. Der Beitrag verfolgt am Wandel von Naturgeschichte zur Biologie den Wandel jenes Repräsentationsproblems, das in dieser Beziehung von Sichtbarem und Sagbarem angelegt ist, und beschreibt, welche Rolle dabei die Erforschung der Gewebe spielt. Um 1800 formuliert die Biologie einen neuen Begriff des Lebens, der besagt: Ein Lebewesen ist nicht nur als eine sichtbare Beziehung von Teilen und Ganzem organisiert, sondern als ein zirkulärer, systemischer Funktionszusammenhang, in dem jeder Effekt zugleich Ursache ist. Dabei wird das Analyseobjekt der sichtbaren Struktur des Organismus abgelöst von der Organisationsweise: Das Gewebe wird zu einem wissenschaftlichen Gegenstand, bei dessen Untersuchung sich eine Analyse von sichtbaren Strukturen mit der Analyse von Funktionen verbindet.


The paper explains a case made by Michel Foucault. In 17th and 18th century natural history the order of knowledge is based on a congruent relationship of the visible and the utterable. The paper follows, alongside the change from natural history to biology, a change in the logic of representation. It describes the role played by the research on tissues in the problematization of representation and the changing relationship between the visible and the utterable. Around 1800 a new notion of life is formulated in biology: a living being is not only organized as a visible structure of parts and a whole, but as a circular, systemic connection between functions, where every effect is a cause. The visible structure of the organism as the object of analysis is thus substituted by the investigation of the functions: the tissue becomes a scientific object the examination of which combines the study of its visible structure with an investigation of its functions.