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Evidenz des Dionysos-Mythos als Begründung der Tragödie

Die Vision der Tragödienschrift Nietzsches und deren Erfüllung in Hofmannsthals Elektra


Zurück zum Heft: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Band 58. Heft 1
DOI: https://doi.org/10.28937/1000106217
EUR 14,90


Der Beitrag unternimmt eine neue Lektüre der Tragödienschrift Nietzsches mit Blick auf deren doppelte Leistung – den Dionysos-Mythos neu zu vergegenwärtigen und den Ursprung der Tragödie vor Augen zu stellen –, deren Zusammenhang bisher wenig befragt wurde. Als Mythenbildner (nicht als Wissenschaftler des Mythos) stellt Nietzsche den Dionysos-Mythos in einer neuen Weise vor, die ihm den Ursprung der Tragödie freizulegen erlaubt. Gegenläufig führt ihn die Bestimmung des Ursprungs der Tragödie zu einer Konstellation, die dem Dionysos-Mythos neue Gegenwart verleiht. Die neue Präsenz dieses Mythos wie den Ursprung der Tragödie denkt Nietzsche dabei als eine spezifische Zusammenführung des Dionysischen und des Apollinischen: nicht als apollinische Bändigung oder Sublimierung des Dionysischen, auch nicht als dialektische Vermittlung, vielmehr als Ergriffen-Werden des Apollinischen durch das Dionysische, das auf der Schwelle verharrt, in Absprung zu und Aufschub neuer, umfassender dionysischer Entgrenzung. Generiert werde derart, so Nietzsche, ein ›Schauen und Sehnen über das Schauen hinaus‹, worin die spezifische Evidenz des Dionysos-Mythos in der Perspektive der Tragödie und vice versa zu erkennen sind. Als eine dramatische Erfüllung dieser Vision der Tragödienschrift wird Hofmannsthals Tragödie Elektra aufgezeigt.

The article undertakes a rereading of Nietzsche’s Birth of Tragedy with a focus on its two central achievements – reviving the Dionysus myth and making the origin of tragedy evident – whose mutual interrelatedness has attracted only sparse critical attention to date. Working more as a myth-maker than a theorist, Nietzsche advances a groundbreaking portrayal of the story of Dionysus that allows him to lay bare the origins of tragedy. Simultaneously, his identification of tragedy’s ultimate source suggests a configuration that lends the Dionysus myth new currency. In so doing, Nietzsche conceives the manifest presence of this myth – as well as that of the origins of tragedy – as a specific recombination of the Dionysian and the Apollonian: not as an Apollonian taming or sublimation of the Dionysian, nor yet as dialectical mediation, but rather as the Apollonian’s seizure by the Dionysian, which teeters on the threshold between lurching toward and postponing a new, more comprehensively Dionysian loss of boundaries. In this way, Nietzsche suggests, there is generated a »Schauen und Sehnen über das Schauen hinaus,« a mode of viewing amplified by longing, through which the specific form of the Dionysus myth from the perspective of tragedy and conversely of tragedy from the perspective of myth becomes apparent. The fulfillment of Nietzsche’s vision in dramatic art is here exemplified by Hofmannsthal’s Elektra.