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Empathie und Sprache

Über Pflichten von Autoren und Lesern sich einzufühlen


Back to issue: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Band 63. Heft 1
DOI: https://doi.org/10.28937/1000108136
EUR 16.90


Eine Person, die zu anderen etwas sagt oder einen Text schreibt, der vielen zugänglich ist, sollte antizipieren, welche Effekte ihre Rede haben könnte. Sie sollte sich in ihre möglichen Rezipienten einzufühlen versuchen. Umgekehrt sollte sich eine Person, die sich anderen zuhörend oder lesend zuwendet, bemühen, zu verstehen, was ihr gesagt worden ist und was die Autorin, die sie gerade liest, gemeint haben könnte. Mündliche und schriftliche Kommunikation funktioniert nur bei gegenseitiger Empathie von ›Sender‹ und ›Empfänger‹. Gegenwärtig wird vor allem Redenden und Schreibenden die Verantwortung aufgebürdet, sich in diejenigen, an die sie sich richten, einzufühlen. Bei toten Autoren ist dies absurd. Sie konnten sich nicht in uns heute einfühlen. Haben wir nicht die Pflicht zu verstehen, wie sie es gemeint haben könnten? Haben wir nicht die Pflicht, die Eigendynamik der Entwicklungsprozesse der Sprache zu berücksichtigen, wenn wir anderen, vor allem toten Autoren, vorwerfen, sie würden uns mit ihren Äußerungen verletzen? Sollte, bevor ein solcher Vorwurf erhoben wird, nicht erforscht werden, mit welcher Intention eine Äußerung gemacht wurde? A person who says something to others, or writes a text that is accessible to many, should try to anticipate what effects her speech or writing might have. She should try to empathize with her potential audience. Conversely, a person who directs her attention to a speaker or an author should try to understand what was said, and what the author she is reading might have meant. Oral and written communication work only if there is mutual empathy between ›sender‹ and ›receiver‹. In today’s world, however, the responsibility to empathize is mainly demanded from those who speak and write. They are expected to anticipate how those who listen and read may feel. As applied to dead authors this demand is absurd. They could not anticipate how ›we‹ may feel today when reading their words. Is it not ›our‹ responsibility today to try and understand what they might have meant? Is it not ›our‹ duty to think about the ways language develops when we accuse deceased authors of hurting our feelings? Should ›we‹ not investigate those authors’ intentions before we make such accusations?